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Vertiefung der WWU - politische Integration und wirtschaftliche Konvergenz

Rede von Yves Mersch, Mitglied des Direktoriums der EZB, auf der Tagung „Economic and Monetary Union — Deepening and Convergence“, Linz, 5. Juli 2018

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir hätten es besser wissen können.

In den Diskussionen zum ersten bedeutsamen Entwurf einer europäischen Währungsunion wurden bereits Herausforderungen offenkundig, die wir noch nicht ganz gemeistert haben. Der Plan, bis 1980 eine gemeinsame Währung einzuführen, der 1970 von einem Expertenausschuss unter dem Vorsitz des damaligen luxemburgischen Premierministers Pierre Werner ausgearbeitet wurde, betonte – angesichts unzureichender wirtschaftlicher Konvergenz und fehlender fiskalischer Transfers – die Notwendigkeit einer wirtschaftspolitischen Koordinierung, für die eine politische Union erforderlich wäre. Spätere Entwürfe, einschließlich des Maastricht-Vertrags von 1992, haben die zwangsläufigen Spannungen, die sich aus einer Währung ohne Staat ergeben, nicht ausreichend berücksichtigt. Europa leidet noch immer unter diesen Defiziten, auch wenn es sich von der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen 100 Jahre erholt hat, die eine Bedrohung für unsere Demokratien darstellte.

Da der Euro eine gemeinsame Währung ist, können Länder mit niedrigem Produktivitätswachstum nicht auf das Instrument der Währungsabwertung zurückgreifen; in dynamischeren Ländern, deren Währungen normalerweise aufwerten würden, verharren die Inflationsraten auf niedrigem Niveau. Das Problem kann nur durch interne Abwertung gelöst werden, was sinkende Nominallöhne und steigende Produktivität zur Folge hat. Doch dies ruft sozialen Widerstand hervor und leistet dem Populismus Vorschub. Die jüngsten politischen Vorschläge in Italien konnten nur durch den Druck der Märkte und die Vernunft der etablierten – nationalen und europäischen – Institutionen im Zaum gehalten werden.

Die konzeptionellen Schwächen der Währungsunion zu erkennen, kann indes nicht bedeuten, das Projekt als solches infrage zu stellen. Zu viel Finanz-, politisches und soziales Kapital wurde bereits investiert, und die Kosten einer Auflösung der Union wären unbezahlbar; sie hätten verheerende wirtschaftliche, soziale und politische Folgen.

Die einzige praktikable Option besteht in der fortgesetzten Vertiefung unserer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) durch politische und wirtschaftliche Konvergenz. Beide Aspekte sind für die WWU unverzichtbar.

Ich werde mich heute mit drei Bereichen beschäftigen, in denen dringend Fortschritte erzielt werden müssen. Erstens müssen wir fiskalische und strukturelle Reformen aktiver vorantreiben. Zweitens müssen wir die Risiken im Finanzsektor und seine Fragmentierung weiter reduzieren. Und drittens müssen wir die institutionelle Architektur der WWU entschieden ausbauen, um den aktuellen und künftigen Herausforderungen besser standhalten zu können.

Trotz eines robusten wirtschaftlichen Wachstums ist der Euroraum weiterhin anfällig für negative Schocks. Die Gefahr eines – wenngleich ursprünglich symmetrischen – externen Schocks ist in jüngster Zeit in den Vordergrund getreten, da sich das globale Umfeld als zunehmend unsicher erweist, ein Rückzug hinter die nationalen Grenzen zu beobachten ist und das multilaterale System unter Druck steht.

Fiskalpolitik und Strukturreformen

Sämtliche Länder des Euroraums müssen zuallererst ihre Widerstandsfähigkeit verbessern. Dies ist für das Euro-Währungsgebiet von besonderer Bedeutung. Angesichts asymmetrischer Schocks, die sich der Kontrolle nationaler Behörden entziehen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kosten aufgrund der starken Verflechtungen in den Bereichen Handel und Finanzwesen über die nationalen Grenzen hinweg innerhalb der Währungsunion weitergeleitet werden. Selbst bei einem allgemeinen Schock erweist sich das unterschiedliche Ausmaß der Widerstandsfähigkeit der einzelnen Länder als besondere Herausforderung für die Transmission der einheitlichen Geldpolitik. Dennoch kann die Geldpolitik die nationalen Defizite nicht ausgleichen.

Daher ist es von entscheidender Bedeutung, flexible Arbeits- und Gütermärkte zu entwickeln, die die Krisengefahr verringern und eine schnellere Erholung ermöglichen, indem sie eine raschere Verlagerung der Produktionsfaktoren zwischen den Sektoren ermöglichen.[1] Laut Forschungsergebnissen des IWF, der OECD und der EZB können gut aufeinander abgestimmte und synergetisch konzipierte Reformpakete in diesen Bereichen das Wachstumspotenzial und die Widerstandsfähigkeit steigern. Gleichzeitig müssen dringend weitere Anstrengungen unternommen werden, um die Solidität und Effektivität der nationalen Institutionen zu verbessern. [2] [3]

Was den fiskalischen Aspekt betrifft, ist es unerlässlich, dass die Mitgliedstaaten das anhaltende Wachstum dazu nutzen, um Finanzpolster zu bilden und Schulden abzubauen, und dass Staaten, die über haushaltspolitischen Spielraum verfügen, die öffentlichen Investitionen ankurbeln. Ein niedrigerer Schuldenstand und größere Polster erhöhen die Widerstandsfähigkeit für den Fall eines Schocks. Durch die Einhaltung der Regeln, einschließlich der Anforderung niedriger Schuldenstände, erhöhen Staaten, die einen Konjunkturabschwung erleben, die Wahrscheinlichkeit, dass die Finanzmärkte weiterhin auf ihre Solvenz vertrauen. Sie schaffen dadurch auch bessere Voraussetzungen, um sich von einem Schock zu erholen. Durch beträchtliche Finanzpolster kann der haushaltspolitische Spielraum zur Abfederung von Konjunkturabschwüngen geschaffen werden. Auf diese Weise können Produktionsverluste minimiert und die Kapazitäten eines Landes zur Abzahlung der Staatsschulden ausgebaut werden.

Für die Umsetzung einer soliden Wirtschafts- und Finanzpolitik sind letztlich die nationalen Regierungen zuständig. Wegen der hiermit verbundenen potenziellen Ansteckungseffekte sind diese Politikfelder jedoch auch ein gemeinsames Anliegen der Union.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns die Instrumente, die uns bereits zur Verfügung stehen, besser zu eigen machen, insbesondere den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) und das Verfahren bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht. Die Tatsache, dass die aggregierten Schulden- und Defizitquoten im Euroraum nun niedriger sind als in jeder anderen großen Volkswirtschaft, liefert den Beweis, dass unsere gemeinsamen Fiskalregeln Wirkung zeigen. Dennoch sind weitere strukturelle haushaltspolitische Anpassungen erforderlich, insbesondere in den Ländern mit den höchsten Schuldenständen. Und obwohl sich das Verfahren bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht im Hinblick auf die Identifizierung von Reformbedarf als sehr wirksam erwiesen hat, verläuft die Implementierung schleppend.

Gleichzeitig könnten weitere Instrumente auf der Ebene des Euro-Währungsgebiets entwickelt werden. Die Vorschläge lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen. Die erste Kategorie legt den Schwerpunkt auf die Förderung der Konvergenz durch eine direkte Steigerung der Allokationseffizienz, was über die bislang im EU-Haushalt vorgesehenen Struktur- und Kohäsionsfonds hinausgeht. In der zweiten Kategorie besteht das Ziel in einer Stabilisierung auf der Ebene des Euro-Währungsgebiets. Außerdem gibt es Vorschläge, die beide Ansätze miteinander verbinden, z. B. durch die Förderung von Investitionen bei Konjunkturabschwüngen. Mit diesen Vorschlägen werde ich mich heute allerdings nicht befassen.

Was die Konvergenz betrifft, schlägt die Europäische Kommission beispielsweise vor, Strukturreformen durch den EU-Haushalt zu fördern. Grundsätzlich könnte ein solches Instrument durch positive Anreize einen Beitrag zur Umsetzung von Reformen leisten. Damit dies tatsächlich funktioniert, muss der Vorschlag der Kommission in dreierlei Hinsicht optimiert werden.

Erstens sollten Reformen nach Maßgabe ihrer Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftlichen Aussichten ausgewählt werden. Zweitens sollte die Verteilung der Finanzhilfen auf der Grundlage einer qualitativen Beurteilung und nicht aufgrund des Anspruchs eines Landes auf „ein Stück vom Kuchen“ erfolgen. Um die Wirksamkeit der Beurteilung zu fördern, sollten die Finanzmittel an synergetisch konzipierte Reformpakete, Reformen mit kurzfristigen Belastungen des Staatshaushalts oder die Finanzierung flankierender Maßnahmen gekoppelt werden.[4] Rentenreformen wären ein passendes Beispiel, da sie mit kurzfristigen Belastungen des Staatshaushalts verbunden sein können.[5] Drittens sollten angemessene und durchsetzungsstarke „Clawback“-Mechanismen zur Rückforderung der Finanzmittel im Fall einer Rückgängigmachung von Reformen vorgesehen werden. Zwar erwähnt die Kommission einen solchen Mechanismus, doch ist weitgehend unklar, wie festgestellt werden soll, dass eine Reform rückgängig gemacht wurde.

Sowohl die Kommission als auch das aktuelle deutsch-französische Positionspapier sehen zusätzliche Instrumente zur makroökonomischen Stabilisierung vor. Für die Wirksamkeit solcher Instrumente sind zwei Aspekte entscheidend. Erstens sollte eine zentrale Fiskalkapazität entwickelt werden, um den Euroraum besser in die Lage zu versetzen, schwerwiegende flächendeckende Rezessionen zu bewältigen, und somit die Geldpolitik zu unterstützen. Zweitens sollte eine solche Fiskalkapazität über angemessene Anreize für eine solide Haushalts- und Wirtschaftspolitik verfügen.

Beide Aspekte werden von den bisherigen Vorschlägen nicht berücksichtigt. Was ihre Wirksamkeit betrifft, weisen die Vorschläge Defizite auf, da sie vom Umfang her begrenzt sind und anscheinend den Schwerpunkt auf asymmetrische und nicht auf symmetrische Schocks legen, obwohl die bestehenden Regelungen des Vertrags bereits Finanzhilfen für Mitgliedstaaten ermöglichen, die aufgrund von außergewöhnlichen Ereignissen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, von gravierenden Schwierigkeiten bedroht sind.[6] Außerdem tragen die Vorschläge der Frage, wie Fehlanreizen entgegenzuwirken ist, nicht ausreichend Rechnung. Die deutsch-französischen Vorschläge sehen dafür keine Mechanismen vor.

Darüber hinaus böte ein an die Erwerbslosenquote gekoppelter Trigger, wie er von der Kommission vorgesehen ist, Entscheidungsträgern nicht die Möglichkeit, zwischen „unglücklichem Zufall“ und „schlechter Politik“ zu unterscheiden. Er könnte sogar dazu führen, dass ein Anstieg der Arbeitslosigkeit, der durch politische Maßnahmen bedingt ist, belohnt wird.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Einführung einer zentralen Fiskalkapazität an die Überarbeitung des wirtschafts- und finanzpolitischen Steuerungsrahmens gekoppelt werden sollte. Die Chancen einer Einigung würden außerdem steigen, wenn die Vorschläge nicht dazu verwendet würden, fragwürdige Steuervorhaben, die in der Vergangenheit abgelehnt wurden, in neuem Gewand zu präsentieren.

Risiken und Fragmentierung des Finanzsektors reduzieren

Lassen Sie mich nun zum zweiten Themenkomplex und den damit verbundenen Herausforderungen für den Euroraum übergehen: den Risiken im Finanzsektor.

Vorab möchte ich jedoch in Erinnerung rufen, welche Fortschritte bei der Steigerung der Widerstandsfähigkeit des Finanzsektors im Euroraum erzielt wurden. Mit der Bankenunion hat Europa einige entscheidende Lehren aus der Krise gezogen und einen solideren Rahmen geschaffen.

Die Bankenunion ruht auf drei Säulen. Zwei von ihnen sind bereits vollständig aufgerichtet, während sich die dritte im Prozess der politischen Einigung befindet. In der ersten Säule der Bankenunion werden die größten Banken des Euroraums von der EZB über ein einheitliches Regelwerk beaufsichtigt, das die Rechtsvorschriften und Regelungen im Bankenrecht harmonisiert. Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism – SSM) dient nicht nur der Vereinheitlichung der Aufsicht im Euroraum unter Einhaltung höchster internationaler Standards, sondern auch der Förderung einheitlicher Rahmenbedingungen für eine verbesserte Finanzmarktintegration in Europa.

Die zweite Säule schafft einen Rahmen zur Bankenabwicklung für bedeutende Institute, der das Risiko minimiert, dass staatliche Gelder bei Bankeninsolvenzen in Anspruch genommen werden. Der Einheitliche Abwicklungsmechanismus (Single Resolution Mechanism – SRM) ist eine logische Ergänzung des Systems der einheitlichen Aufsicht im Euroraum: Große Banken werden auf Unionsebene nicht nur beaufsichtigt, auch ihr Ausfall wird zentral abgewickelt. Der SRM stellt einen bedeutenden Fortschritt dar, da Banken nun ausfallen können, ohne das gesamte Finanzsystem in Mitleidenschaft zu ziehen. Das reibungslose Funktionieren des SRM wird außerdem durch die Einführung eines Einheitlichen Abwicklungsfonds (Single Resolution Fund – SRF) unterstützt. Der SRF gewährleistet, dass die Finanzbranche als Ganzes die Stabilisierung des Finanzsystems durch die Bündelung von Beiträgen finanziert. Dies erfordert jedoch die Einrichtung eines – solvenz- und liquiditätssichernden – Sicherheitsmechanismus für den SRF, der an den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) angeschlossen ist.

Die Maßnahmen, die hinsichtlich Aufsicht und Abwicklung ergriffen worden sind, ebnen wiederum politischen Diskussionen über ein europäisches Einlagensicherungssystem (European Deposit Insurance Scheme – EDIS) den Weg. Und sie dürften diese Diskussionen erleichtern, da sie die Wahrscheinlichkeit, dass EDIS überhaupt jemals eingesetzt werden muss, deutlich verringern. Der wichtigste Beitrag von EDIS ist vielmehr, dass es Vertrauen in das Finanzsystem als Ganzes schaffen wird, ohne wahrscheinlich jemals zum Einsatz zu kommen.[7] Das ist das Schöne an solchen Sicherheitsmechanismen.

Dies wird sich jedoch nur bestätigen, wenn die Diskussionen über EDIS vollständig anreizkompatibel bleiben. Mit anderen Worten: EDIS darf in keiner Weise zur Verwässerung der Standards von MREL und TLAC oder anderen Maßnahmen der Risikoreduzierung führen, wie etwa Initiativen, die darauf abzielen, die Bestände an problematischen Krediten zu verringern und den Aufbau neuer Bestände zu verhindern. Wenn diese Voraussetzungen jedoch erfüllt sind, kann ein etwaiger verbleibender Widerstand gegen EDIS nur auf ein falsches Verständnis seines Wesens als Sicherungsmechanismus zurückzuführen sein.

Dank der Bankenunion und ihres verbesserten Regulierungs- und Aufsichtsrahmens konnten deutliche Fortschritte hinsichtlich der Reduzierung des Gesamtrisikos erzielt werden. Die Quote des harten Kernkapitals bedeutender Kreditinstitute ist von 9,7 % im Jahr 2008 auf zuletzt über 14 % gestiegen. Die Verschuldungsquoten sind von 3,7 % auf 5,8 % angewachsen. Darüber hinaus sind Liquidität und Refinanzierung der Banken deutlich stabiler. Weitere Maßnahmen zur Risikoreduzierung werden derzeit umgesetzt.[8]

Wir sollten uns jedoch nicht auf unseren Erfolgen ausruhen. Der Finanzsektor des Euroraums bleibt anfällig für Altlasten.[9] Zudem müssen für eine verstärkte Risikoteilung Meilensteine gesetzt werden, um Fortschritte in Bereichen zu gewährleisten, die für das optimale Funktionieren der Bankenunion von zentraler Bedeutung sind.

So sind beispielsweise zielgerichtete Schritte hin zu einer Harmonisierung und Verbesserung bestimmter Elemente nationaler Insolvenzregelungen zu ergreifen, darunter die Angleichung der Bedingungen, unter denen eine Bank als ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend erachtet wird, sowie der Bedingungen für Liquidationen gemäß der nationalen Rechtsvorschriften für Kreditinstitute. Auch im Bereich der zuvor erwähnten problematischen oder sogenannten notleidenden Kredite (Non-Performing Loans – NPLs) müssen Fortschritte erzielt werden, insbesondere eine rasche Umsetzung des ECOFIN-Aktionsplans. Und schließlich müssen wir das einheitliche europäische Regelwerk für eine weitere Reduzierung der Fragmentierung nutzen, indem Möglichkeiten zur Regulierungsarbitrage beseitigt sowie Aufsichtsbefugnisse harmonisiert werden und sichergestellt wird, dass große grenzüberschreitend tätige Investmentfirmen, die ähnliche Risiken wie Kreditinstitute aufweisen, auf europäischer Ebene wie Banken beaufsichtigt werden. Alle diese politischen Ziele gehen mit einem effizienteren Funktionieren des SSM Hand in Hand.

Darüber hinaus besteht für Banken weiterhin die Notwendigkeit, vorausplanen und sich Liquidität beschaffen zu können – selbst dann, wenn sie als „ausfallend oder wahrscheinlich ausfallend“ eingestuft sind oder der Abwicklungsprozess eingeleitet wurde. Bei der Abwicklungsplanung sollte jedoch in keinem Fall automatisch davon ausgegangen werden, dass die Zentralbank Liquidität bereitstellt – sei es über geldpolitische Geschäfte oder in Form von Notfall-Liquiditätshilfe. Die Abwicklungsfinanzierung ist vor allem Aufgabe der jeweiligen Regierung. Als Ergänzung dienen jetzt die Regeln und Verfahren, die vom Einheitlichen Abwicklungsausschuss und den nationalen Abwicklungsbehörden im Rahmen des SRM angewandt werden. Zentralbanken stellen Liquidität bereit, tragen aber nicht zur Solvenz bei. Refinanzierungslücken, die nicht durch den Bankensektor oder den SRF bewältigt werden können, sollten letztlich durch die Mitgliedstaaten oder in ihrem Namen oder durch zwischenstaatliche Institutionen geschlossen werden.

Stärkung der institutionellen Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion

Die bis hierher erörterten Elemente können sich gegenseitig verstärken. Im fiskalischen und im wirtschaftlichen Bereich können gemeinsame Instrumente die Konvergenz stärken und so einen Schutz vor schlechten Gleichgewichtszuständen und wirtschaftlichen Schäden in Krisen bieten. Zudem helfen die richtigen Maßnahmen dabei, politischen Spielraum zu schaffen, um überhaupt erst auf Schocks reagieren zu können. Im Finanzbereich sorgen Sicherungsmechanismen dafür, die Risiken im gesamten System zu reduzieren, indem Panikreaktionen der Märkte bei Ausbruch einer Krise eingedämmt werden. Und ein starker Abwicklungsrahmen gewährleistet, dass im Krisenfall tatsächlich nur ein sehr geringes Maß an Risikobeteiligung durch den öffentlichen Sektor erforderlich ist, da die Kosten in erster Linie vom privaten Sektor getragen werden.

Dennoch ist es eine Realität des Wirtschaftslebens, dass das Risiko schwerer wirtschaftlicher Schocks nie vollständig eliminiert werden kann. Daher ist ein wirksamer Rahmen für das Krisenmanagement auch künftig unverzichtbar. Somit ist es von Vorteil, wenn die Rolle des ESM beim Krisenmanagement gestärkt wird, sofern die Governance-Regelungen im Hinblick auf ihre Einbeziehung in die föderale Struktur der EU ordnungsgemäß überprüft werden. Sollte der ESM als zwischenstaatliche Institution weiterhin außerhalb der Rechtsordnung der EU bleiben, müssen in künftigen Diskussionen über die Aufgaben, die ihm im Bereich der wirtschaftspolitischen Steuerung übertragen werden könnten, die bestehenden Zuständigkeiten berücksichtigt werden, die der EU und ihren Institutionen durch das Unionsrecht übertragen wurden.

Marktanreize, die eine umsichtige Finanzpolitik angemessen fördern und die Risiken in Bezug auf Bankbilanzen reduzieren, können eine sinnvolle Unterstützung des bestehenden regelbasierten Rahmens darstellen. Um die Glaubwürdigkeit der Nicht-Beistands-Klausel zu stärken und Probleme hinsichtlich der Tragfähigkeit der Verschuldung besser vorhersehen zu können, muss der ESM in der Lage sein, frühzeitig zwischen Liquiditäts- und Solvenzproblemen zu unterscheiden.[10] Mehr Klarheit in unseren geldpolitischen Rahmen würde es uns ermöglichen, die Probleme in einem frühen Stadium anzugehen, anstatt später Notfallmaßnahmen ergreifen zu müssen.

Ebenso müssen wir, um die Verflechtung zwischen Banken und Staaten endgültig aufzubrechen, weiterhin über das regulatorische Instrumentarium nachdenken, mit dessen Hilfe die übermäßige Anhäufung von Ausfallrisiken bei Staatsanleihen in Bankbilanzen eingedämmt werden kann, ohne Marktstörungen auszulösen. In diesem Sinne sind die angemessene regulatorische Behandlung von Ausfallrisiken bei Staatsanleihen und die Förderung einer ordnungsgemäßen Schuldenrestrukturierung zwei Seiten derselben Medaille, in denen sich die Tatsache widerspiegelt, dass öffentliche Schulden nicht mehr völlig risikofrei sind. Dennoch müssen wir bedenken, dass Europa diesen Weg möglicherweise allein gehen würde.

Zugleich sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass eine vom Markt auferlegte Disziplin oftmals plötzlich kommt, Schockeffekte auslöst und negative Folgen für die Finanzstabilität haben kann. Daher sind die deutsch-französischen Vorschläge zur Einführung einstufiger Umschuldungsklauseln und zur Angleichung der Rollen von ESM und IWF bei Umschuldungsverhandlungen sinnvolle erste Schritte zur Erarbeitung eines berechenbareren Rahmens für die geordnete Beilegung von Schuldenkrisen.[11]

Damit möchte ich auf meinen letzten Punkt zu sprechen kommen, nämlich dass institutionelle Regelungen und demokratische Kontrollen im Einklang mit den Fortschritten in der Wirtschaft-, Fiskal- und Finanzunion angepasst werden müssen, um die Anforderungen an ihre Verfassungsmäßigkeit zu erfüllen.

Europäische Regelungen werden mit der Zeit eine immer stärkere Rolle spielen, und ihre Effizienz und Legitimität werden durch eine unklare Zuweisung von Verantwortlichkeiten und Rechenschaftspflichten gefährdet. Stärkere Kontrollen auf EU-Ebene sind jedoch aus zwei Gründen von Bedeutung. Erstens wäre dies ein echtes Merkmal einer funktionierenden Demokratie, in der die Hoheitsgewalt entweder vollständig auf die EU übertragen wurde (z. B. bei der Geldpolitik) oder eine gemischte Zuständigkeit unter Beteiligung der nationalen und der EU-Ebene besteht (z. B. bei prudenziellen Maßnahmen). Und zweitens müssen Haftung und Kontrolle Hand in Hand gehen – wer die Musik bezahlt, bestimmt, was gespielt wird. Wenn auf europäischer Ebene das Geld der Steuerzahler betroffen ist, bedarf es einer europäischen Kontrollfunktion.

In dieser Hinsicht ist die Wirtschafts- und Währungsunion einzigartig. Da der Euroraum nicht mit der EU gleichzusetzen ist, erweist es sich als schwieriger, die Rechenschaftspflicht genau an die Aufgaben des Euroraums anzupassen. Insbesondere finden Debatten des Europäischen Parlaments über Angelegenheiten des Euroraums nicht in einer dem Euroraum entsprechenden Zusammensetzung statt, obwohl eine solche Vorgehensweise durchaus dem gesunden Menschenverstand entspräche.

Rechenschaftspflicht und Souveränität müssen auch in den Bereichen angemessen sein, die nicht ausschließlich auf Ebene der EU oder des Euroraums behandelt werden, sondern in denen es eine gemeinsame Zuständigkeit gibt. Dies trifft auf den ESM und die Finanzpolitik zu, wo die Situation etwas komplexer und verschwommener ist.

Der ESM beispielsweise wurde auf Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen und für Aufgaben ins Leben gerufen, bei denen die EU lediglich eine koordinierende Rolle innehat und noch keine Rechenschaftspflicht gegenüber dem Europäischen Parlament herrscht. Daher müssen wir einen Mittelweg finden. Einerseits sollte die Rechenschaftspflicht bei Entscheidungen, die vollständig in der Hand nationaler Behörden liegen, gegenüber den nationalen Parlamenten bestehen. Andererseits muss der ESM über rasche und glaubwürdige Entscheidungsverfahren verfügen. Dies wird in einem zwischenstaatlichen Umfeld, das durch nationale Vetos eingeschränkt ist und außerhalb des verfassungsmäßigen Schutzes des gemeinschaftlichen Besitzstands liegt, nie vollständig gewährleistet sein. Vor diesem Hintergrund sollte der ESM in eine Institution umgewandelt werden, die EU-Recht unterliegt und gegenüber dem Europäischen Parlament rechenschaftspflichtig ist. Dies würde sicherstellen, dass der ESM besser in der Lage ist, im alleinigen Interesse des Euro-Währungsgebiets und somit im Einklang mit seinem funktionellen Mandat zu handeln, d. h. die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes zu gewährleisten.

Eine ähnliche Logik gilt bei weiteren Diskussionen in Bezug auf eine Fiskalkapazität für den Euroraum, die mögliche Zentralisierung von EU-Kapitalanlagen oder die Befugnisse, die ein europäischer Finanzminister möglicherweise haben könnte.

Fiskalische Instrumente müssen durch institutionelle Regelungen und demokratische Kontrolle auf der entsprechenden Ebene ergänzt werden. Falls ein Haushalt für den Euroraum eingeführt wird, so sollte dies, wie auch seine Rolle auf der Einnahmen- und auf der Ausgabenseite, im Rahmen der laufenden Debatte über ein Finanzministerium für den Euroraum sowie eine dem Euroraum entsprechende Zusammensetzung des Europäischen Parlaments erörtert werden.

Auch wenn mit der Schaffung neuer Dachfonds wie etwa dem InvestEU-Programm möglicherweise lobenswerte Gemeinwohlziele verfolgt werden, sollten wir es tunlichst vermeiden, bewährte Verfahrensweisen der Union zu untergraben. Insofern sollten wir nicht der Versuchung nachgeben, uns in Bereichen, in denen das Primärrecht unmissverständliche Regelungen trifft, auf Sekundärrecht zu berufen.

Schlussbemerkungen

Während wir weitere Schritte zur Vollendung der WWU ergreifen, sollten wir zwei Prinzipien berücksichtigen, die in einer demokratischen Gesellschaft das Kernstück effektiver Politik darstellen, nämlich die wirksame Angleichung von Haftung und Kontrolle sowie die Erfüllung demokratischer Kontroll- oder Rechenschaftspflichten auf der Ebene, auf der politische Entscheidungen getroffen werden. Die Aufrechterhaltung dieser zwei Prinzipien ist eine notwendige Voraussetzung für die anhaltenden Bemühungen, die wirtschaftliche Konvergenz und eine stärkere Finanzintegration im Euroraum zu fördern. Betrachtet man die Erfahrungen der letzten 20 Jahre, so haben die bisher erzielten Fortschritte zweifellos das Fundament für weitere erforderliche Schritte im Sinne einer „Währung jenseits des Staates“ gelegt – eine Tatsache, der sich die geistigen Väter der Währungsunion bereits bewusst waren. Oder, um es mit den Worten des früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors zu sagen: „Europa ist wie ein Fahrrad. Es muss in Bewegung bleiben, sonst fällt es um.“

  1. [1]Sondermann, Towards more resilient economies, Journal of Policy Modelling, 40(1), S. 97-117, 2018.
  2. [2]K. Dellis, D. Sondermann und I. Vansteenkiste, Determinants of FDI inflows in advanced economies: Does the quality of economic structures matter?, Working Paper Series der EZB, Nr. 2066, Frankfurt am Main, Mai 2017.
  3. [3]Masuch, Mooshammer und Pierluigi, Institutions and Growth in Europe, CEPS Working Paper, April 2016.
  4. [4]R. Duval, Is there a role for macroeconomic policy in fostering structural reforms? Panel evidence from OECD countries over the past two decades, European Journal of Political Economy, 24 (2): 491-502, 2008.
  5. [5]Europäische Zentralbank, The short-term fiscal implications of structural reforms, Wirtschaftsbericht 7/2015, S. 52-70, November 2015.
  6. [6]„Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. ...“, Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
  7. [7]Siehe J. Carmassi et al., Completing the Banking Union with a European Deposit Insurance Scheme: who is afraid of cross-subsidisation?, Occasional Paper Series der EZB, Nr. 208, 2018.
  8. [8]Siehe M. Draghi, Risk reducing and risk sharing in the euro area, Rede am Europäischen Hochschulinstitut, Florenz, 11. Mai 2018.
  9. [9]D. Andrews und F. Petroulakis, Breaking the shackles: zombie firms, weak banks and depressed restructuring in Europe, Working Paper Series der OECD, Nr. 1433, 2017.
  10. [10]Siehe Y. Mersch, Reflections on the feasibility of a sovereign debt restructuring mechanism in the euro area, ESCB Legal Conference 2016, 2016.
  11. [11]Siehe Benassy-Quere et al., Reconciling Risk Sharing with Market Discipline, CEPR Policy Insight, Nr. 91, Centre for Economic Policy Research.
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