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Wie sich binnenwirtschaftliche Stärke gegenüber weltweiter Schwäche durchsetzen kann

Grundsatzrede von Mario Draghi, Präsident der EZB, anlässlich des Neujahrsempfangs 2016 der Gruppe Deutsche Börse, Eschborn, 25. Januar 2016

Vielen Dank, Herr Faber, für Ihre freundlichen einleitenden Worte. Zunächst möchte ich das aufgreifen, was Sie zur zentralen Bedeutung von Finanzmarktinfrastrukturen gesagt haben. Auf unserem Weg zu einer Kapitalmarktunion in Europa sind starke Marktinfrastrukturen unerlässlich. Begrüßenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Deutsche Börse an unserem neuen TARGET2-Securities-System teilnehmen wird. Dieses System wird zum Abbau der finanziellen Fragmentierung beitragen und die Attraktivität Europas für Investoren steigern.

Das Euro-Währungsgebiet ist zu Beginn des neuen Jahres mit zwei gegenläufigen Entwicklungen konfrontiert: Während die Binnenwirtschaft anzieht, ist weltweit eine konjunkturelle Abschwächung zu beobachten.

Im Euroraum setzt sich die Erholung fort, vor allem angetrieben von den Konsumausgaben. Diese Entwicklung wird durch unseren akkommodierenden geldpolitischen Kurs, den Energiepreisrückgang und eine neutrale Haushaltspolitik unterstützt. Die Beschäftigtenzahlen steigen und haben seit ihrem Tiefstand im Jahr 2013 um mehr als 2 Millionen zugelegt.

Weltweit herrscht jedoch eine größere wirtschaftliche Unsicherheit. Die Entwicklung in China und in anderen Schwellenländern hat zu einer Abschwächung der globalen Nachfrage und zu Unsicherheit an den Finanzmärkten geführt. Die Prognosen für das weltweite Wachstum werden nach unten korrigiert.

In diesem Jahr wird die zentrale Frage für die politischen Entscheidungsträger im Eurogebiet sein, welche der beiden Entwicklungen die Oberhand gewinnt. Als Währungsunion müssen wir vor allem dafür sorgen, dass sich die binnenwirtschaftliche Stärke gegenüber der weltweiten Schwäche durchsetzt.

Unsere Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Weltwirtschaft sind begrenzt, aber die Entwicklung im Eurogebiet können wir beeinflussen. Wir können die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um unsere Volkswirtschaften zu stärken und um ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber globalen Schocks zu erhöhen. Alle politischen Entscheidungsträger müssen hier ihren Beitrag leisten.

Alles entscheidend ist Vertrauen. Vertrauen in das Wachstum, Vertrauen in die Stabilität und Vertrauen in die Zukunft des Euroraums. Nur durch vertrauensbildende Maßnahmen können wir den Übergang von der aktuellen Konjunkturerholung hin zu einer robusten strukturellen Erholung schaffen.

Die Rolle der EZB

Der EZB kommt bei der Förderung des Vertrauens eine zentrale Aufgabe zu. Und wir nehmen diese Aufgabe wahr, indem wir unserem Preisstabilitätsmandat gerecht werden und eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 % gewährleisten.

Zu diesem Zweck haben wir 2015 unser Programm zum Ankauf von Vermögenswerten aus der Taufe gehoben, das Asset Purchase Programm – kurz APP. Das Ziel besteht darin, die Teuerungsrate wieder zurück in die Nähe von 2 % zu bringen. Im Dezember haben wir zudem eine Rekalibrierung des APP beschlossen, um diese Rückkehr sicherzustellen.

Ausschlaggebend für diesen Beschluss waren neue Abwärtsrisiken, die die Aussichten für die Preisstabilität beeinträchtigen könnten. Diese Risiken bezogen sich in erster Linie auf externe Faktoren, und zwar solche, die womöglich nicht vorübergehender Natur sind. Da die Inflation bereits seit einiger Zeit niedrig ist, bestand unserer Ansicht nach die Gefahr, dass eine fortgesetzt niedrige Inflation – selbst wenn sie auf die Ölpreise zurückzuführen ist – die Inflationserwartungen destabilisieren und an Persistenz gewinnen könnte.

Verschärfend kam noch hinzu, dass die Kerninflation, bei der Energie- und Nahrungsmittel unberücksichtigt bleiben, ebenfalls niedrig war. Zwar bezieht sich unser Ziel nicht auf die Kerninflation, diese verfügt aber in Bezug auf die Gesamtinflation auf mittlere Sicht tendenziell über Vorlaufeigenschaften.

Aus all diesen Gründen war eine geldpolitische Antwort geboten. Wir entschlossen uns zu einer Rekalibrierung des APP, da uns zahlreiche Belege zu seiner Wirksamkeit vorliegen.

Ich bin an anderer Stelle bereits im Einzelnen auf diese Belege eingegangen, [1] aber lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen: Seit Mitte 2014, als wir unser Maßnahmenpaket zur Förderung der Kreditvergabe ins Leben riefen, sind die Kreditzinsen der Banken im Eurogebiet um 80 Basispunkte und in den von der Krise am stärksten betroffenen Ländern um 100 bis 140 Basispunkte gefallen. Zum Vergleich: Um einen ähnlichen Effekt mit konventionellen Maßnahmen zu erreichen, wäre eine einmalige Zinssenkung von 100 Basispunkten erforderlich gewesen.

Dies zeigt, dass wir selbst bei Zinssätzen von null mit unkonventionellen Maßnahmen die Wirkung einer umfangreichen Zinssenkung erzielen können. Insgesamt wird deutlich, dass das APP einen erheblichen Einfluss auf das Vertrauen, die Kreditvergabe und die Wirtschaft hat.

Manch einer mag sich fragen, warum wir solch einen Aufwand betreiben, um unser Preisstabilitätsmandat zu erfüllen. Schließlich ist es doch gut für die Menschen, wenn die Inflation niedrig und die Güter billiger sind?

Kurzfristig ist ein Preisrückgang sicherlich hilfreich für die Verbraucher. Wenn die Inflation aber zu lange auf einem zu niedrigen Niveau bleibt, so wirkt sich dies zum Nachteil der Verbraucher aus. Das gilt insbesondere für die Zeit nach einer Schuldenkrise, eine Situation, wie wir sie gegenwärtig im Eurogebiet erleben.

Eine sehr geringe Teuerung erschwert den Anpassungsprozess in den Ländern, was zu höheren Arbeitslosenzahlen führt. Sie verzögert den Abbau von Ungleichgewichten zwischen den Ländern, sodass es jenen Staaten, die im Vorfeld der Krise an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hatten, schwerer fällt, diese wiederzuerlangen. Und wenn niedrige Inflation unerwartet eintritt, steigt die reale Schuldenlast, sodass es schwieriger für die Wirtschaft ist, aus den Schulden herauszuwachsen.

Würde die Inflation im Euroraum unser Basisszenario beispielsweise in den nächsten fünf Jahren jeweils um nur 1 Prozentpunkt unterschreiten, so würde sich die Schuldenquote des privaten Sektors um rund 6 Prozentpunkte erhöhen. Das hört sich vielleicht nicht nach besonders viel an. Über fünf Jahre gerechnet entspricht dies aber 700 Milliarden € an zusätzlichen Schulden für Unternehmen und private Haushalte – und dies zu einem Zeitpunkt, an dem wir eine Reduzierung der Schulden anstreben sollten.

Noch entscheidender ist, dass es bei der Erfüllung unseres Ziels um Glaubwürdigkeit geht. Wenn eine Zentralbank sich ein Ziel setzt, kann sie es bei Nichterreichen nicht einfach ändern. Vertrauen entsteht, wenn alle Parteien ihr Mandat erfüllen. Und genau das wird die EZB tun, so wie es der Vertrag vorgibt.

Fragen zur Politik der EZB

Die EZB leistet also ihren Beitrag zu Vertrauen, Preisstabilität und einer robusten Erholung – und wird dies auch künftig tun. Mir ist aber bewusst, dass unsere Maßnahmen nicht unumstritten sind. Das Niedrigzinsumfeld und unsere unkonventionellen Maßnahmen sorgen bei einigen für Bedenken, und es würde mich nicht wundern, wenn dies auch auf viele der hier Anwesenden zutrifft.

Im Folgenden möchte ich drei Punkte herausgreifen, die meiner Einschätzung nach in diesem Zusammenhang am wichtigsten sind.

Zum einen werden niedrige Zinsen als unfaire Bestrafung der Sparer wahrgenommen. Natürlich führen niedrige Zinssätze zu einer geringeren Rendite aus sicheren Anlageformen wie beispielsweise Einlagen. Letztendlich zählt für die Sparer jedoch, was sie sich mit ihren Vermögenswerten kaufen können – also die reale Rendite –, und die Entwicklung ihrer Portfolios insgesamt. Und bei Anwendung dieses Maßstabs ist die Situation bei Weitem nicht so schlecht, wie sie oft dargestellt wird.

Unsere Kollegen von der Deutschen Bundesbank haben in einer Studie darauf hingewiesen, [2] dass die von deutschen Privathaushalten aus einem typischen Portfolio erzielte Realrendite seit 2008 rund 1,5 % betrug. Sicher, dieser Wert liegt unter dem vor der Krise verzeichneten Durchschnitt. Von einer „Enteignung“ der Sparer kann aber wohl kaum die Rede sein, und die Lage stellt sich zudem besser dar als wiederholt der Fall seit Anfang der 1990er-Jahre.

Eine damit zusammenhängende Sorge ist, dass Menschen bei niedrigen Zinsen durch noch mehr Sparen die Differenz ausgleichen. Niedrige Zinsen wären also kontraproduktiv. Aber auch das stimmt nicht ganz. Die eben von mir angeführte Bundesbank-Studie zeigt, dass lediglich 1 % der deutschen Privathaushalte mehr spart, weil die Zinsen niedrig sind. Das Sparverhalten der überwiegenden Mehrheit – 77 % – hat sich durch die niedrigen Zinsen nicht verändert.

Zutreffend ist aber, dass niedrige Zinsen die Wirtschaft ankurbeln und insbesondere die Nachfrage nach Gebrauchsgütern wie etwa Autos steigern. Das begünstigt die Erholung, lässt die Einkommen steigen und ermöglicht uns letztendlich eine schnellere Rückkehr zu einer Normalisierung. Würden wir hingegen heute die Zinsen anheben, wäre das Gegenteil der Fall. Wir würden wieder in eine Rezession zurückfallen, und die Zinsen würden noch länger auf niedrigem Niveau verharren.

Eine weitere Sorge im Zusammenhang mit unserer Politik ist, dass sie die Finanzstabilität gefährdet. Niedrige Zinssätze, so heißt es, hielten die Banken davon ab, ihre Bilanzen zu sanieren, und ließen „Zombie-Banken“ entstehen. Außerdem wird behauptet, dass sie einer übermäßigen Risikoübernahme Vorschub leisten würden, wodurch Blasen entstehen könnten. Und je länger sie andauern, umso größer würden die Risiken.

Dies sind sicherlich wichtige Punkte – doch ist es wirklich Aufgabe der Geldpolitik, hierauf zu reagieren?

Aus Sicht der politischen Entscheidungsträger ist schließlich nicht das Zinsniveau ausschlaggebend für den Gesundheitszustand der Banken, sondern die Qualität der Aufsicht. Und dank der Schaffung des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism – SSM) und der umfassenden Bewertung von Bankbilanzen sind die Banken heute sogar besser aufgestellt als noch vor ein paar Jahren. Die Eigenkapitalquote von Banken des Euroraums ist von rund 8 % im Jahr 2007 auf aktuell knapp 14 % gestiegen. Mit anderen Worten: Die Risiken sind derzeit rückläufig und nehmen nicht zu.

Und obgleich niedrige Zinsen die Risikoübernahme fördern können, gibt es keine Warnsignale, die auf eine massive finanzielle Instabilität hindeuten. Finanzkrisen sind in der Regel mit einem starken Kreditwachstum und einer zunehmenden Verschuldung im Bankensystem verbunden. Zurzeit haben wir es aber mit einer einsetzenden Krediterholung und einem Abbau der Verschuldung der Banken zu tun. Kurz nach einer schweren Bankenkrise wäre ein starkes Kreditwachstum wirklich ein „Luxusproblem“!

Das heißt nicht, dass nicht teilweise, wie etwa an einigen Wohnungsmärkten, Übertreibungen festzustellen sind. Allerdings erfolgt die Festlegung der Zinsen im Euroraum mit Blick auf makroökonomische Ziele und nicht, um lokalen Blasen entgegenzuwirken. So haben wir seit der Krise ein ganz neues makroprudenzielles Instrumentarium speziell für diesen Zweck geschaffen, und erforderlichenfalls sollten die Länder dieses nutzen. Und erlauben Sie mir noch eine Anmerkung: Sollten wir wirklich zu irgendeinem Zeitpunkt eine allgemeine Überhitzung der Wirtschaft feststellen, so kann die Zentralbank jederzeit Überschussliquidität aus dem System nehmen.

Schließlich wird im Zusammenhang mit unserer Politik die Sorge geäußert, dass sich der Druck auf die Regierungen zur Durchführung von Strukturreformen verringern könnte. Es gibt jedoch eine Reihe von Problemen mit dieser Argumentation.

Zunächst einmal steht ihr der institutionelle Rahmen entgegen. Es ist nicht Aufgabe der EZB, mithilfe ihrer Geldpolitik Regierungen zur Umsetzung von Reformen zu zwingen. Das entspricht nicht unserem im Vertrag verankerten Mandat. Und ehrlich gesagt, wäre ein solches Verhalten für nicht gewählte Zentralbanker auch völlig illegitim.

Auch einer empirischen Prüfung hält die Argumentation nicht stand. Zwischen der Höhe der Zinsen und der Umsetzung von Reformen besteht nicht zwangsläufig eine Beziehung. Spanien beispielsweise leitete Arbeitsmarktreformen ein, als die Zinsen bereits niedrig waren. Italiens Arbeitsmarktreform im letzten Jahr fand in einem ruhigen Marktumfeld statt. Und Frankreich setzt die Macron-Reformen ohne jeglichen Marktdruck um.

Auch einer logischen Prüfung hält die Argumentation nicht stand. Denken Sie an die Reformen, die in den Ländern des Euroraums tatsächlich erforderlich sind – Reformen des Rechts-, Bildungs- und öffentlichen Verwaltungssystems. Diese Reformen sind nicht einfach, und es kann ein ganzes Jahrzehnt dauern, bis sie Wirkung zeigen. Für ihre Umsetzung sind die persönliche Überzeugung der politisch Verantwortlichen und eine breite Unterstützung in der Bevölkerung erforderlich. Ob die Zinsen zeitweise höher sind, ist nicht von wesentlicher Bedeutung.

Bei hohen Zinsen werden in der Regel keine langfristigen Reformen umgesetzt, sondern kurzfristige Maßnahmen zur Beruhigung der Märkte ergriffen. Das bedeutet im Normalfall Haushaltskonsolidierung durch Steuererhöhungen, was die Rezession noch verschärft. Dies wiederum schafft ein noch widrigeres Umfeld für Strukturreformen, weil die mit diesen Reformen verbundenen Kosten vor dem Hintergrund einer schwachen Wirtschaftslage noch höher sind.

All diese Sorgen haben eine Gemeinsamkeit: In jeder steckt zwar ein Körnchen Wahrheit, doch es gibt noch eine andere Lesart der Ereignisse, die nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhält. Hier ist ein Muster zu erkennen, das während der gesamten Krise zu beobachten war.

In den letzten Jahren warnten einige Beobachter davor, dass unsere Politik eine unkontrollierbare Inflation auslösen würde. Das hat sie nicht. Andere warnten vor großen Verlusten, weil wir unsere Bilanz ausgeweitet und Sicherheiten geringerer Qualität akzeptiert hatten. Tatsächlich haben wir keinen einzigen Verlust verbucht. Dann behaupteten dieselben Kritiker, dass unsere Politik rechtswidrig sei. Der Europäische Gerichtshof widersprach dem. Jetzt warnen sie uns vor den Nebeneffekten und Risiken unserer Maßnahmen.

Nie erwähnen sie hingegen die Risiken der Inaktivität. Was würde das für unser Preisstabilitätsmandat bedeuten, und damit für Wachstum und Beschäftigung, und schließlich für die Zukunft unserer Währungsunion? Dies sind meiner Ansicht nach die wirklichen Risiken, über die wir uns Sorgen machen müssen. Und der Kurs, dem unsere Geldpolitik folgt, ist in diesem Sinne ein Kurs zur Reduzierung von Risiken.

Die Rolle anderer politischer Entscheidungsträger

Wir haben aber immer gesagt, dass die Geldpolitik alleine nicht die Lösung sein kann. Um ein solides Fundament für Vertrauen zu schaffen, müssen wir dazu beitragen, dass aus einer Konjunkturerholung eine strukturelle Erholung wird. Voraussetzung hierfür ist, dass andere politische Entscheidungsträger im Eurogebiet ihren Beitrag leisten.

Es gibt vier Schlüsselbereiche, in denen entschlossenes Handeln in diesem Jahr vertrauensbildend wirken könnte.

Der erste ist die Haushaltspolitik. Eine kräftige Erholung ist nur möglich, wenn die Haushaltspolitik mit der Geldpolitik zusammenarbeitet und nicht gegen sie. Dank großer Anstrengungen wird nun im Euroraum ein weitgehend neutraler haushaltspolitischer Kurs verfolgt. Dennoch müssen viele Länder nach wie vor weitere strukturelle Anpassungen vornehmen, um das Vertrauen in ihre öffentlichen Finanzen zu stärken. Die Herausforderung besteht also darin, die Anpassungen mit möglichst geringen Wachstumseinbußen vorzunehmen.

Zentral für eine wachstumsfreundliche Konsolidierung ist die Ausgestaltung der Anpassung. So sollte ausgabenseitig eher auf die Kürzung von Staatsausgaben gesetzt werden, als Investitionen zurückzufahren. Einnahmenseitig wiederum dürften die Verlagerung und – wenn möglich – die Verringerung der Steuerlast zielführender sein als Steuererhöhungen. Natürlich ist die Steigerung des Wachstumspotenzials unserer Volkswirtschaften ebenfalls wichtig, damit wir die Schulden hinter uns lassen können. Dies bringt mich zum zweiten Bereich, in dem Handeln gefragt ist, nämlich Strukturreformen.

Strukturreformen sind für die Erhöhung der Beschäftigung unerlässlich, insbesondere in Ländern, die viele Flüchtlinge aufnehmen. Um eine Erholung der privaten Investitionen in Gang zu setzen, sind sie unverzichtbar. Auch zur Steigerung der Produktivität sind sie unabdingbar, damit der schrumpfende Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung in der Lage ist, unsere alternde Gesellschaft zu tragen.

Natürlich ist jedes Land mit seinen eigenen Herausforderungen konfrontiert. Aber wenn ich von der Reformagenda 2016 einen länderübergreifenden Punkt herausgreifen müsste, so fiele meine Wahl darauf, dass wir es den Menschen leichter machen müssen, im Euroraum Geschäfte zu tätigen. Dabei geht es nicht unbedingt um Deregulierung. Es geht vielmehr um praktische Maßnahmen zur Verbesserung des Geschäftsumfelds, wie etwa die Beschleunigung von Gerichtsverfahren oder die Verringerung des Zeit- und Kostenaufwands bei Firmengründungen. Derartige Reformen hätten unmittelbar positive Auswirkungen auf die Investitionen. Doch im Gegensatz zu einigen anderen Maßnahmen wären ihre negativen Auswirkungen auf die Inflation oder die Beschäftigung auf kurze Sicht gering.

Der dritte Bereich betrifft den Umgang mit der hohen öffentlichen und privaten Verschuldung, die eine Belastung für die Erholung darstellt. Ein Teil der Lösung besteht in einer gut konzipierten Insolvenzregelung für Unternehmen, bei der zwischen existenzfähigen und nicht existenzfähigen Kreditnehmern unterschieden und die Bewertung von veräußerbaren Vermögenswerten vereinfacht wird. Entscheidend für das Vertrauen ist aber auch, dass der Abwicklungsprozess für Banken eindeutig geregelt ist.

So müssen wir vor allem dafür sorgen, dass die neuen Bail-in-Regeln in allen Ländern gleich angewandt werden und möglichst wenig nationale Ermessensspielräume bieten. Außerdem besteht nach wie vor keine Einigung hinsichtlich eines Sicherungsmechanismus für den Einheitlichen Abwicklungsfonds. Und ein europäisches Einlagensicherungssystem würde Fortschritte bei der Vollendung der Bankenunion signalisieren.

Dies bringt mich zum letzten Handlungsfeld: der Vollendung unserer Währungsunion. Der Bericht der fünf Präsidenten legt die langfristige Vision für die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) dar und zeigt die Etappen auf dem Weg dorthin auf. Nun gilt es, die kurzfristigen Etappen zurückzulegen, die dieser langfristigen Vision Glaubwürdigkeit verleihen werden. Ich denke hierbei vor allem an die Fertigstellung der drei Säulen der Bankenunion.

Die Beseitigung der Schwachstellen der WWU durch Fortschritte bei der Umsetzung der kurzfristigen Etappen und der langfristigen Vision würde das Vertrauen in Europa stärken.

Schlussbemerkungen

Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

Der Ausblick für die Weltwirtschaft im laufenden Jahr ist ungewiss. Das Eurogebiet steht vor der Herausforderung, sicherzustellen, dass der globale Gegenwind unsere binnenwirtschaftliche Erholung nicht vom Kurs abbringt. Daher müssen alle politischen Entscheidungsträger daran arbeiten, Vertrauen zu schaffen.

Die EZB trägt durch die Erfüllung ihres Preisstabilitätsmandats dazu bei, die Konjunkturerholung zu sichern. Und die Sorgen hinsichtlich unserer Geldpolitik erweisen sich bei näherer Betrachtung als unbegründet. Immer wieder wurden diejenigen, die unsere Entscheidungen anzweifelten, eines Besseren belehrt. Die EZB hat bei ihren Entscheidungen unabhängig von der Politik gehandelt und im Sinne des gesamten Euro-Währungsgebiets.

Damit der Übergang von einer Konjunkturerholung zu einer strukturellen Erholung gelingt, müssen jedoch auch andere ihren Beitrag leisten. Das bedeutet gemeinsame Maßnahmen in Bezug auf die Haushaltspolitik, Strukturreformen und den Abbau des Schuldenüberhangs. Am dringlichsten ist jedoch, dass wir den Prozess zur Vollendung unserer Währungsunion in allen erforderlichen Bereichen fortführen.

  1. [1]Siehe Rede von Mario Draghi beim Frankfurt European Banking Congress, Geldpolitik: gestern, heute und morgen, Frankfurt am Main, 20. November 2015, https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2015/html/sp151120.de.html.

  2. [2]Aufsatz aus dem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank: Das Spar- und Anlageverhalten privater Haushalte in Deutschland vor dem Hintergrund des Niedrigzinsumfelds, Oktober 2015: https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Veroeffentlichungen/Monatsberichtsaufsaetze/2015/2015_10_spar_und_anlageverhalten.pdf?__blob=publicationFile

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