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Der Weg zu einem politischen Konvergenzprozess im Euroraum

Rede von Benoît Cœuré, Mitglied des Direktoriums der EZB,anlässlich der interparlamentarischen Konferenz „Towards a Progressive Europe“,Berlin, 16. Oktober 2015

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

sehr geehrter stellvertretender Fraktionsvorsitzender, lieber Carsten [Schneider],

vielen Dank für die liebenswürdigen einleitenden Worte. Danke, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Ich freue mich, dass die Parlamente bei der Debatte über die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion, kurz WWU, eine führende Rolle einnehmen. Womöglich werden Sie sich fragen, was ein nicht gewählter Vertreter der Zentralbank zu den politischen Grundlagen der WWU zu sagen hat. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist schließlich keine politische Institution. Tatsächlich sollte das zweite „W“ in WWU von politischer Einflussnahme freigehalten werden, damit wir effektiv handeln können. Um dies aber langfristig sicherzustellen, müssen wir an der Weiterentwicklung des ersten „W“, also der Wirtschaftsunion arbeiten. Ich möchte heute darlegen, warum ich der Ansicht bin, dass die politische Dimension der Wirtschaftsunion von zentraler Bedeutung sein wird.

Mit Leidenschaft und Augenmaß voranschreiten

Max Weber beschrieb vor fast hundert Jahren die Politik als „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“. [1]

Das Brett, das wir heute bohren wollen – die Zukunft der WWU – ist sicherlich eines der härtesten und dicksten; hier ist nicht nur Leidenschaft vonnöten, sondern auch die Fähigkeit, Enttäuschungen wegzustecken. Hätten Sie mich im Juli und August gefragt, mit welcher Leidenschaft ich an langen Sitzungen der Eurogruppe, nächtelangen Verhandlungen und Telekonferenzen teilnehme, so hätte ich wohl zurückhaltend geantwortet. Allzu oft verlieren wir aus den Augen, was wir erreichen wollen.

Zum einen gibt es Menschen, die schlicht eine Auflösung der WWU fordern – entweder insgesamt oder zumindest, was ihr Land betrifft. Man findet sie sowohl am linken als auch am rechten Rand des politischen Spektrums. Das würde ich als Vogel-Strauß-Politik bezeichnen. Ein Euro-Land kann theoretisch auf die Mitsprache im gemeinsamen Währungsprojekt verzichten. Aber es kann sich nicht der wechselseitigen Abhängigkeit entziehen. Wir sind zu eng miteinander verflochten und, offen gesagt, einzeln auch zu klein, um angesichts der Globalisierung Probleme allein zu lösen. Daran ändert sich auch nichts, wenn wir den Kopf in den Sand stecken. Das ist der Grund, warum wir uns von einem System fester Wechselkurse – das volatiler, asymmetrischer und unberechenbarer war als das, was wir heute haben – verabschiedet und eine gemeinsame Währung eingeführt haben. Und diese gemeinsame Währung wird auf Dauer bestehen; das haben die letzten Monate erneut gezeigt.

Zum anderen gibt es Menschen, die meinen, wir könnten das irgendwie weiter mit der heutigen Struktur und den bestehenden Regelungen schaffen und diese gelegentlich bei Krisen ergänzen. Sie erinnern daran, wie viel im letzten halben Jahrzehnt erreicht wurde, um die Konstruktion der WWU zu stärken; und sie haben recht. Aber die Entwicklungen über den Sommer, der Zustand unserer Wirtschaft und die offenkundigen Probleme bei der Durchsetzung der gerade erst vereinbarten neuen Regeln – all dies deutet darauf hin, dass die bestehenden Strukturen nicht genügen. Wir müssen die Ad-hoc-Reparaturen und die Zwischenlösungen hinter uns lassen. Sie waren notwendig, reichen aber nicht, um die WWU für künftige Krisen zu wappnen und das Fundament für nachhaltiges Wachstum zu legen.

Und schließlich gibt es noch die Versuchung, in der Übertragung aller wichtigen wirtschaftspolitischen Funktionen auf die europäische Ebene den Königsweg zu sehen, oder frei nach Charles de Gaulle wie ein Ziegenjunges auf dem Stuhl herumspringen und dabei „Europa! Europa! Europa!“ zu blöken. Dieser Argumentation zufolge wird es dem Kontinent schon wieder besser gehen, wenn Europa endlich dabei helfen könnte, die richtige Politik zu formulieren, und diese entschlossen durchsetzte. Und sobald die Ergebnisse unserer Politik Erfolg zeigten, würde dies der europäischen Einigung die Legitimation verleihen, die sie in den Augen der Bürgerinnen und Bürger in den letzten Jahren verloren hat. Selbst wir bei der EZB sind gegen diese Versuchung nicht gefeit. Aber es wäre unrealistisch, sich zu stark daran zu klammern, denn derzeit sind Europas Bürgerinnen und Bürger nicht bereit, sich mit diesem Gedanken anzufreunden.

Deshalb möchte ich Ihnen heute ein Vorgehen mit Augenmaß vorschlagen. [2] Dies bedeutet in meinen Augen vor allem gleichzeitige Fortschritte bei der wirtschaftlichen und politischen Integration – hin zu gemeinsamen Entscheidungen bezüglich unserer Wirtschaftspolitik bei gleichzeitiger Stärkung der europäischen Legitimierung dieser Beschlussfassung.

Ein politisches Narrativ für die WWU

Wir sollten niemals vergessen, dass die europäische Integration im Kern immer ein politisches Projekt gewesen ist. Als sechs Länder im Jahr 1951 beschlossen, ihre Kohle- und Stahlmärkte zu vereinen, so geschah dies aus der tiefen Überzeugung, dass die Verbindung dieser Länder in einer Schicksalsgemeinschaft der beste Weg sei, um einen weiteren Krieg zu vermeiden. Bei Europa ging es nie in erster Linie um wirtschaftliche Funktionalitäten und Notwendigkeiten. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass wir das politische Narrativ der europäischen Integration wieder mit Leben erfüllen müssen, um den nächsten Schritt der wirtschaftlichen Integration zu vollziehen.

Wenn wir allerdings auf das letzte Jahrzehnt zurückblicken, so lässt sich erkennen, dass sich die Notwendigkeit einer Fortentwicklung immer unmittelbar aus der Krise ergab. Der Europäische Stabilitätsmechanismus und seine Vorläufer – angefangen bei den bilateralen Krediten an Griechenland im Mai 2010 – waren stets die direkte Reaktion auf die Dringlichkeit der Lage. Gleichzeitig haben diese Mechanismen aber das Wesen der WWU auf ewig verändert und deutlich gezeigt, welch starke Wechselbeziehungen bestehen.

Was dann folgte – die Stärkung des Steuerungsrahmens, der Fiskalpakt, die Bankenunion – waren die ersten sichtbaren Ergebnisse dieser Veränderung, und ich weiß, dass viele von Ihnen aktiv dazu beigetragen haben. Aber diese Entwicklung folgte immer noch stark dem funktionalen Narrativ des akuten Krisenmanagements und der Krisenprävention – weniger einem Narrativ der politischen Wahl als einem der funktionalen Notwendigkeit.

Diese Schritte waren unverzichtbar zur Stärkung der WWU und um der Welt zu zeigen, dass wir gewillt waren, das Notwendige zu tun. Doch die Struktur des Maastricht-Rahmens in Bezug auf die Kompetenzverteilung ist im Grunde unverändert geblieben: Arbeitsmarktgesetzgebung, soziale Sicherungssysteme, Steuerpolitik, zahlreiche Aspekte der Gütermärkte und die meisten Bestimmungsfaktoren des Geschäftsumfelds, wie etwa die Rechtssysteme, sind in der Zuständigkeit der Mitgliedsländer verblieben.

Dabei handelt es sich um die politisch sensibelsten Bereiche, während die Bereiche, denen ein eher bürokratischer und technischer Charakter zugeschrieben wird – Geldpolitik, Standardsetzung im Binnenmarkt, Wettbewerbspolitik oder Finanzgesetzgebung – nach und nach auf die europäische Ebene verlagert wurden. Diese anfängliche Aufgabenverteilung wurde von vielen auch als eine Möglichkeit betrachtet, historisch gewachsene und tief verwurzelte nationale, soziale und wirtschaftliche Modelle und Präferenzen zu bewahren.

Die Krise hat jedoch gezeigt, dass diese Aufteilung nur ein künstliches Konstrukt war, dass sie die Übertragungseffekte durch die Währungsunion nicht berücksichtigte und dass sie letztlich Gesellschaftsverträge auf nationaler Ebene nicht schützen konnte. Die Situation hat sich hierdurch sogar noch verschlimmert: Die Krise hat gezeigt, dass die Souveränität über die Wirtschaftspolitik nicht ausschließlich bei den Mitgliedsstaaten liegen kann. Wenn eine Politik verfolgt wird, die mit der Mitgliedschaft in einer Währungsunion nicht vereinbar ist, so ist sie früher oder später zum Scheitern verurteilt. Politische Fehler kommen wie ein Bumerang zurück. In einer Währungsunion werden Länder und deren Nachbarländer wieder von ihnen heimgesucht, weil Abhängigkeiten bestehen und wichtige Instrumente zur Anpassung nicht mehr zur Verfügung stehen.

In unserem Fall nahm der Bumerang die Form platzender Blasen und des Verlusts des Marktzugangs an, gefolgt von harten makroökonomischen Anpassungsprogrammen. Diese Programme waren notwendig, und sie haben gewirkt. Gleichwohl hatten sie einen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Preis: wirtschaftlich und sozial insofern, als die Umsetzung von Ad-hoc-Maßnahmen und die ungeordnete Korrektur von Ungleichgewichten immer mit höheren Kosten verbunden sind, als wenn man Ungleichgewichte von vornherein verhindert. Und politisch insofern, als drastische Korrekturmaßnahmen sich auf die politische Stabilität auswirken; sie stellen die Legitimation der WWU infrage.

Für die Zukunft müssen wir uns deshalb klar festlegen: Entweder wir führen eine Debatte und beschließen letztendlich gemeinsam, wie unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik in einem schlüssigen europäischen Gesellschaftsvertrag zusammengeführt werden kann, der die besten Elemente der nationalen Gesellschaftsverträge auf nachhaltige Weise in sich vereint, [3] oder wir bleiben bei der Prämisse, dass die Entscheidung über die zentralen Aspekte der Wirtschafts- und Sozialpolitik allein Sache der Länder ist – und warten, dass der Bumerang wieder zurückkommt. Meiner Meinung nach sollte uns die Entscheidung leicht fallen.

Hier eine Entscheidung zu treffen und die Entwicklung voranzutreiben, ohne das Augenmaß zu verlieren, bedeutet aber, dass wir das funktionale Narrativ hinter uns lassen müssen, das meiner Ansicht nach an seine Grenzen stößt. Wir brauchen wieder ein klares politisches Narrativ, um rechtfertigen zu können, warum eine engere Zusammenarbeit nicht nur notwendig, sondern sogar sinnvoll ist. Dieses Narrativ sollte insbesondere zeigen, dass unser hochgeschätztes europäisches Gesellschaftsmodell nicht in Gefahr ist, wenn wir von mehr Europa sprechen, sondern dass gerade mit einem Mehr an Europa die sozialen Errungenschaften geschützt und aufrechterhalten werden können, die uns vom Rest der Welt unterscheiden und dass es uns dabei helfen kann, unser Gesellschaftsmodell weiterzuentwickeln, um die Herausforderungen der Globalisierung zu bewältigen.

Die Formulierung eines solchen politischen Narrativs ist per definitionem nicht Aufgabe eines Technokraten. Das ist Ihre Aufgabe, nicht meine. Dennoch möchte ich Ihnen einige Gründe nennen, warum ich glaube, dass ein neuer politischer und wirtschaftlicher Konvergenzprozess, wie er im Bericht der fünf Präsidenten vorgeschlagen wird, [4] Sie an ein solches Narrativ heranführen könnte.

Der Weg zu einem politischen und wirtschaftlichen Konvergenzprozess

Ein „Konvergenzprozess 2.0“ [5] sollte Konvergenz fördern, und zwar diesmal nicht mit Blick auf nominale Zielgrößen, sondern in Bezug auf eine ähnlich starke Widerstandsfähigkeit der Wirtschaftsstrukturen.

„Widerstandsfähigkeit“ bezieht sich hier sowohl auf die Länderebene (d. h. interne Anpassungsmechanismen, wie Lohn- und Preisflexibilität, als Ausgleich für den Verlust nominaler Wechselkurse) als auch auf die Ebene des Eurogebiets insgesamt (d. h. grenzüberschreitende Anpassungsmechanismen, wie Risikopooling an den Kapitalmärkten oder Arbeitskräftemobilität).

Um jedoch nicht nur wirtschaftliche Konvergenz zu fördern, sondern weiterzugehen und politische Konvergenz zu erreichen sowie durch eine neues politisches Narrativ dauerhafte Unterstützung zu gewinnen, ist ein Prozess erforderlich, der sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Natur ist.

Was wären also die wesentlichen Merkmale der wirtschaftlichen Dimension dieses Prozesses?

Meiner Ansicht nach müsste eine geringe Zahl einfacher, aber wichtiger Bedingungen erfüllt sein. Erforderlich wären a) ein Konsens über eine gemeinsame Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik, b) eine Übereinkunft darüber, in welchen Politikbereichen Konvergenz zu erreichen ist, und c) ein Mechanismus, mit dem sicherstellt wird, dass sich die Konvergenz über die Anfangsphase des Prozesses hinaus fortsetzt.

Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wäre ein „Konvergenzprozess 2.0“ nicht nur ein wirksames Instrument zur Vorbeugung und Bewältigung von Ungleichgewichten und makroökonomischen Risiken. Meiner Meinung nach schaffte er auch die Voraussetzung für eine zusätzliche fiskalische Stabilisierung auf europäischer Ebene. Eine ausreichende Konvergenz mit Blick auf die Widerstandsfähigkeit könnte dann Mitgliedstaaten beim Umgang mit asymmetrischen Schocks helfen, ohne dass sich daraus dauerhafte Transfers in eine Richtung ergäben.

Dies ist in einer reifen Währungsunion unerlässlich. Es bewahrt die Geldpolitik vor einer unverhältnismäßig hohen Beteiligung an der wirtschaftlichen Stabilisierung. Außerdem wird vermieden, was ich an anderer Stelle „strukturelle Dominanz“ über die Haushaltspolitik genannt habe, also der Umstand, dass sich die Haushaltspolitik dazu gezwungen sieht, die Hauptlast bei der Stabilisierung der Wirtschaft zu tragen, und so mit der Zeit immer mehr haushaltspolitischen Handlungsspielraum einbüßt. Diese übermäßige Inanspruchnahme der Haushaltspolitik wiederum kann zu einer Dominanz der Haushaltspolitik über die Geldpolitik führen. [6]

Aber lassen wir uns nicht täuschen: Eine gemeinsame Haushaltspolitik ist ohne einen erfolgreichen wirtschaftlichen Konvergenzprozess weder wirtschaftlich wünschenswert, noch politisch praktikabel. Auch sollten wir nicht dem Trugschluss erliegen, dass sich so die Notwendigkeit einer soliden Haushaltspolitik auf nationaler Ebene erübrigt. Ganz im Gegenteil, die Schaffung von Vertrauen und Symmetrie durch eine solide nationale Politik und durch die Stärkung der marktbasierten Anpassungsfähigkeit ist eine notwendige Voraussetzung für die weitere Entwicklung. [7]

Nicht zuletzt deshalb ist eine konsequente und gründliche Umsetzung des gegenwärtigen Rahmenwerks – Fiskalpakt, Stabilitäts- und Wachstumspakt, Verfahren bei einem makroökonomischen Ungleichgewicht und länderspezifische Empfehlungen – unerlässlich für den weiteren Fortschritt.

Aber wie sollen die Bedingungen, die ich soeben skizziert habe, in konkretes Handeln umgesetzt werden? Ich denke, dass wir hier das funktionale Narrativ hinter uns lassen müssen.

Warum ist das so? Wie eingangs erwähnt, ist die Versuchung groß, bei der Ausgestaltung eines solchen Konvergenzprozesses den Fokus ausschließlich auf die Output-Legitimation zu legen: Fachleute bestimmen die relevanten Politikbereiche und die zu ergreifenden Maßnahmen. Danach werden diese von starken unabhängigen Institutionen durchgesetzt. Dies würde dann zu soliden Ergebnissen führen, die den Prozess im Nachhinein legitimieren würden. Allerdings wären wir damit auch wieder beim funktionalen Narrativ.

Bei einem neuerlichen Konvergenzprozess darf es sich aus zwei Gründen nicht um ein technisches Projekt handeln: Erstens geht es um Fragen – seien es Arbeitsmarktinstitutionen, Steuern oder die Organisation von Justiz und Verwaltung –, die schon von ihrer Anlage her politischer Natur sind und viel näher an den Alltag der Bürgerinnen und Bürger heranreichen, als beispielsweise die Geldpolitik es jemals tun wird. Zweitens kann die institutionelle Architektur in einem demokratischen System nicht in erster Linie auf Zwang basieren. Im Alltag halten wir uns schließlich nicht deshalb an Regeln, weil wir stets eine Bestrafung fürchten, sondern weil wir an den Sinn dieser Regeln glauben und verstehen, dass sie nur dann funktionieren können, wenn ihre Einhaltung die Norm ist und nicht die Ausnahme.

Erforderlich ist daher vielmehr ein Prozess, der die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, von Regierungen und von Parlamenten sicherstellt, der eine breite Debatte über unser gemeinsames Verständnis hinsichtlich der Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik in einer Währungsunion fördert – und der vor allem auf der Zustimmung zu einem gemeinsamen Rahmen basiert und vollständig legitimierte Institutionen mit entsprechenden Eingriffsmöglichkeiten bei Verstößen gegen den Konsens ausstattet.

Ein solch politischer Konvergenzprozess bietet eine Chance: Er könnte uns zu dem politischen Narrativ führen, dass ich zuvor erwähnt habe.

Damit das gelingt, müssten wir aber ein gemeinsames Verständnis entwickeln, wie die Wirtschaftspolitik gestaltet werden soll. Das könnte bedeuten, dass der Austausch zwischen nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament intensiviert werden muss.

Wenn wir uns auf solch einen Prozess verpflichten würden, wäre im Voraus ein politischer Preis zu zahlen, da es einem Geständnis den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber gleichkäme, dass die nationalen Parlamente nicht allein alle künftigen Herausforderungen bewältigen können. Aber lassen Sie uns ehrlich sein: Nichts ist umsonst. Dieser politische Preis ist gerade die sichtbare Messgröße des kollektiven Bekenntnisses zur gemeinsamen Währung, das notwendig ist, um die wirtschaftliche und politische Widerstandsfähigkeit der WWU in Zukunft zu gewährleisten.

Europäische politische Parteien könnten als Katalysator für solch eine Debatte wirken – und zwar indem sie mehr Diskussionen anstoßen als bislang und sich dabei nicht auf nationale Fragen konzentrieren, sondern auf gesellschaftliche Präferenzen. Es könnte auch bedeuten, dass die Sozialpartner über nationale Belange hinausgehen und eine europäische Perspektive einnehmen müssen.

Schlussbemerkungen

Das Ergebnis eines solchen Prozesses wäre aus rein ökonomischer Perspektive sicher nicht optimal. Das ist ein zentrales Merkmal der Demokratie. Aber das Ergebnis würde über eine Legitimation verfügen und müsste sich, um angenommen zu werden, nicht ausschließlich auf den Erfolg verlassen. Außerdem würde es den Bürgerinnen und Bürgern klar aufzeigen, warum ein gemeinsames Vorgehen erforderlich ist. Dies wäre meiner Ansicht nach ein großer Erfolg, der die WWU politisch untermauern würde. Damit hätten wir nicht nur ein stabileres Umfeld für Wachstum und Wohlstand. Auch wir als Zentralbank könnten unsere Geldpolitik in einem von größerer Sicherheit geprägten Umfeld durchführen. Je weiter das erste „W“ in WWU entwickelt ist, desto besser können wir unseren Auftrag in Bezug auf das zweite „W“ erfüllen.

Der heute von mir erläuterte Vorschlag bietet der Politik die Gelegenheit, wieder stärker auf die Fragen einzugehen, die den Bürgerinnen und Bürgern am Herzen liegen. Er bietet Europa die Gelegenheit, sich im Sinne Webers weiterzuentwickeln, mit Leidenschaft und Augenmaß, und dabei Gemeinsamkeiten zu bewahren und Unterschiede zuzulassen, wenn sie eine Stärke darstellen. Das stünde tatsächlich im Einklang mit dem Modell der Europäischen Union – in Vielfalt geeint.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. [1]Siehe M. Weber, Politik als Beruf, Reclam, Ditzingen, 1992.

  2. [2]Siehe B. Cœuré, Is eurozone governance fit for purpose?, Grundsatzrede anlässlich einer Dinnerveranstaltung des Centre for European Reform, London, 30. Januar 2014.

  3. [3]Siehe B. Cœuré, Revisiting the European social contract, Rede anlässlich der European Conference at Harvard, Europe 2.0 – Taking The Next Step, Cambridge, MA, 2. März 2013.

  4. [4]J.-C. Juncker et al, Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden, Juni 2015.

  5. [5]Siehe Benoît Cœuré, Investing in Europe: towards a “new convergence process”, Athen, 9. Juli 2014.

  6. [6]Siehe B. Cœuré, Lamfalussy was right: independence and interdependence in a monetary union, Rede anlässlich der von der Magyar Nemzeti Bank veranstalteten Lamfalussy Lecture Conference in Budapest, 2. Februar 2015.

  7. [7]Siehe B. Cœuré, Die Zukunft Europas: Auf unseren Stärken aufbauen, Rede anlässlich des Plenums „On the Future of Europe“ auf dem 5. Deutschen Wirtschaftsforum, Frankfurt am Main, 6. Dezember 2013.

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