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Wege hin zum dynamischeren Wachstum

Rede von Yves Mersch, Mitglied des Direktoriums der EZB, auf der DZ BANK Kapitalmarktkonferenz 2015, Frankfurt, 14 July 2015

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir diskutieren heute über „Wege hin zu dynamischerem Wachstum“.

Da Sie mich in meiner Funktion als Direktoriumsmitglied der EZB eingeladen haben, möchte ich gleich mit der Rolle der Geldpolitik einsteigen. Wie wirksam unsere Geldpolitik ist, hängt allerdings auch von Entscheidungen in anderen Politikbereichen ab. Entsprechend gehe ich anschliessend auf Reformen sowohl auf Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf Europäischer Ebene ein.

Der Gouverneursrat der EZB trifft sich diese Woche, um die Geldpolitik für den Euroraum zu beraten. Im Ergebnis wird eine gemeinsame Entscheidung stehen, die ich weder vorwegnehmen kann, noch darf. Wir haben uns auf eine Schweigepflicht zur aktuellen Geldpolitik in der Woche vor den geldpolitischen Sitzungen des Gouverneursrats geeinigt. Wenn ich heute etwas zu vergangenen geldpolitischen Entscheidungen sage oder theoretische Zusammenhänge aufzeige, ist das also nicht als Hinweis zu verstehen, wie wir übermorgen entscheiden werden.

Die Geldpolitik der EZB ist angemessen und wirksam

Angesichts schleppender Kreditvergabe, wachsender Ungewissheit mit Blick auf die wirtschaftliche Erholung und anhaltend eingetrübter Inflationsaussichten haben wir im Sommer vergangenen Jahres eine Reihe geldpolitischer Maßnahmen beschlossen:

  1. Wir haben die Leitzinsen gesenkt;
  2. längerfristige Refinanzierungsgeschäfte so ausgestaltet, dass sie den Banken einen Anreiz bieten, vermehrt Kredite an die Realwirtschaft zu vergeben; und
  3. wir haben ein neues Ankaufprogramm für Pfandbriefe und für besicherte Wertpapiere (asset-backed securities, ABS) gestartet.

Zunächst führte unsere lockere Geldpolitik des vergangenen Jahres zu einer Bodenbildung bei der noch immer negativen Kreditvergabe der Banken im Euroraum in einem Umfeld immer noch eingetrübter Wachstumsaussichten.

Allerdings fiel die Inflationsrate weiter und auf immer breiterer Basis, das heißt, dieser Verfall war nicht nur auf den abgestürzten Ölpreis zurückzuführen. Mehr noch: die Inflationsaussichten verschlechterten sich aufgrund schwächelnder Nachfrage und anhaltender Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung. Das spiegelte sich speziell in den Inflationserwartungen des Marktes wider.

Die Erwartungen drohten, sich von unserem mittelfristigen Ziel zu entkoppeln – einer Preissteigerung von knapp 2%.

In diesem Umfeld mussten wir entschieden reagieren. Eine Zentralbank muss beherzt eingreifen, bevor Erwartungen, die Inflationsrate könne immer weiter zurückgehen, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.

Genau das haben wir getan: im Januar hat der EZB-Rat beschlossen, unsere bestehenden Programme zum Ankauf von Pfandbriefen und ABS um ein umfangreiches Ankaufprogramm für Anleihen des öffentlichen Sektors zu ergänzen.

Diese Entscheidung war nicht nur notwendig. Sie war auch zielführend: Wir konnten den Fall mittel- und langfristiger Inflationserwartungen stoppen. Inzwischen sind die Erwartungen sogar wieder gestiegen. Unsere Experten prognostizieren eine Inflationsrate von durchschnittlich 0,3% in diesem Jahr; 1,5% im nächsten und 1,8% im übernächsten Jahr. [1] Die Kreditvergabe erholt sich stetig. Und zwar nicht nur, weil die Zinsen niedrig sind, sondern auch, weil sich die Auftragslage der Unternehmen bessert und die Stimmung in der Wirtschaft steigt. Wir beobachten also auch einen kognitiven Umschwung, eine positive Aufwärtsspirale, zu der unsere Geldpolitik beiträgt. Übrigens auch hier in Deutschland. Und das gilt trotz der gar nicht in Abrede gestellten unerwünschten Nebeneffekte unseres Kurses. Das alles sind positive Signale. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Laut Eurostats Schnellschätzung ist die Inflationsrate im Euroraum im Juni auf 0.2% gesunken.

Unsere Prognose, dass die Inflationsrate auf mittlere Sicht auf knapp unter 2% steigt, unterliegt der Annahme, dass wir unser Kaufprogramm vollständig umsetzen. Wir beabsichtigen, unsere Ankäufe bis September 2016 weiterzuführen und das Programm in jedem Fall so lange aufrecht zu erhalten, bis sich die Inflationsentwicklungen nachhaltig angepasst haben. Denn unser Mandat haben wir erst dann erfüllt, wenn wir stichhaltig nachweisen können, dass die Inflationsrate sich nachhaltig nahe unserer Definition von Preisstabilität einpendelt.

Strukturreformen sind unerlässlich

Allerdings können wir die Geldpolitik nicht isoliert von anderen Politikbereichen denken. Kurz gefasst: je stärker die strukturellen Bedingungen in den Mitgliedstaaten divergieren, desto schwieriger wird es, mit einer einheitlichen Geldpolitik für Preisstabilität im gesamten Euroraum zu sorgen.

Deshalb werden wir nicht müde, über Strukturreformen zu reden. Der Begriff „Strukturreformen“ kommt in etwa einem Drittel aller veröffentlichen Reden der Mitglieder des EZB-Direktoriums vor. Zum Vergleich: Bei Gouverneuren der amerikanischen Notenbank Federal Reserve ist dies nur in rund 2 % aller Reden der Fall. [2]

Wir können mit unserer Geldpolitik das Wirtschaftswachstum unterstützen. Aber sie wird nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn die Regierungen der Länder im Euroraum sinnvolle Reformen durchführen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und so Bedingungen für nachhaltiges Wachstum schaffen. Erst wenn die strukturellen Rahmenbedingungen ertragreiches Wirtschaften erlauben, nehmen Unternehmen verbesserte Finanzierungsbedingungen voll in Anspruch.

Es wäre deshalb naiv zu glauben, allein konjunkturpolitische Maßnahmen – einschließlich der Geldpolitik – könnten zu einer dauerhaften Rückkehr zu Stabilität und Wachstum führen.

Strukturreformen sind auch notwendig, um möglichen künftigen Schocks effektiver zu begegnen. Flexiblere Arbeits- und Produktmärkte steigern die Widerstandsfähigkeit von Ländern, in denen die Anpassung auch über Preise verläuft. Das heißt zum Beispiel, dass flexiblere Löhne die notwendigen Anpassungen am Arbeitsmarkt in einem wirtschaftlichen Abschwung verringern. Die Risiken von Langzeitarbeitslosigkeit werden so gesenkt, und die wirtschaftliche Erholung erfolgt schneller. Vor allem in einer Währungsunion wie dem Euroraum – in der die Geldpolitik nicht auf länderspezifische Entwicklungen reagieren kann – sind solche Anpassungsmechanismen von zentraler Bedeutung.

Welche Strukturreformen jeder einzelne Mitgliedstaat sinnvoller Weise durchführt, hängt von den jeweiligen nationalen Gegebenheiten ab. Es liegt in der Verantwortung der gewählten Regierungen, darüber zu entscheiden.

Als Zentralbank haben wir lediglich ein Interesse daran, dass jedes Land erfolgreich die jeweils notwendigen strukturellen Reformen durchführt. Und das ist durchaus möglich. Beispielsweise hat Spanien zwischen 2012 und 2013 ein umfassendes Reformpaket umgesetzt. Und das in einer Situation, in der ein Viertel der spanischen Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen war. Inzwischen zählt Spanien zu den wachstumsstärksten Ländern im Euroraum.

Den Bedarf für Reformen sehe ich in allerdings in allen Ländern des Euroraums – auch denen, die derzeit vergleichsweise gut aufgestellt sind. Es ist nicht an der Zeit sich auf den Erfolgen vergangener Reformen auszuruhen, geschweige denn, ambitionierte Reformen wieder zurückzuführen.

Eine Volkswirtschaft, in der schon heute Fachkräfte fehlen, in der ganze Regionen schrumpfen und vergreisen --, die ihre Brücken und Straßen nicht saniert, lebt von der Substanz. Wenn eine Gesellschaft ihr Vermögen verzehrt, kann sie nicht glaubhaft den Anspruch erheben, dynamisch oder gar nachhaltig wachsen zu wollen. Eine Gesellschaft, in der die Zahl der über 80-Jährigen allein in den nächsten 15 Jahren um fast 50 % steigen dürfte, läuft Gefahr, ihren Willen zu Reformen und damit auch ihre Fähigkeit zur Integration zu verlieren. Dann drohen der Hang zur Besitzstandswahrung und der Konservatismus einer geschlossenen Gesellschaft.

Genau deshalb sollten die Regierungen in Europa nicht nur andernorts Strukturreformen einfordern, sondern auch und vor allem im eigenen Land für ein gutes Wirtschaftsklima sorgen, dann wird die gesamte Union davon profitieren. Unsere Volkswirtschaften sind schon lange viel zu eng verknüpft, als dass wir Wirtschafts- und Fiskalpolitik der einzelnen Länder im Euroraum komplett unabhängig voneinander denken könnten. Der Euroraum ist kein lockerer Verbund unabhängiger Staaten, sondern eine Währungsunion.

Reform der Währungsunion geboten

Ganz bewusst haben sich Europas Staats- und Regierungschefs dafür entschieden, eine solche Währungs union zu gründen statt einfach nur ein System fixer Wechselkurse einzuführen. Nun muss die WWU diesem Namen auch gerecht werden.

Angespornt von den Auswirkungen der Krise, ist bereits einiges auf den Weg gebracht worden. Für den Euroraum sollten inzwischen strengere Haushaltsregeln gelten und die Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten stärker koordiniert sein.

Wir haben striktere Aufsichtsregeln für den Finanzsektor, sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene. Natürlich hat das auch Auswirkungen auf das Finanzierungsumfeld. Manche Banken werden etwa wegen der neuen Liquiditätsanforderungen ihr traditionelles Geschäftsmodell überdenken müssen. Und das kann sich gegebenenfalls auch auf die Finanzierungslage von Unternehmen auswirken.

Mit dem einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) und dem einheitlichen Mechanismus zur Bankenabwicklung (SRM) haben wir schließlich einen deutlichen Integrationsschritt hin zu einer Europäischen Bankenunion vollzogen.

Aber, wenn wir mittel- bis langfristig wirklich in einer stabilen und prosperierenden Union leben wollen, müssen wir ehrgeizig weitermachen. Deshalb haben „die fünf Präsidenten“ (Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, Jeroen Dijsselbloem, Präsident der Euro-Gruppe, Mario Draghi, EZB-Präsident, und Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments) einen Bericht vorgelegt, der sowohl konkrete, kurzfristig – also ohne Vertragsänderung umsetzbare – Maßnahmen, als auch längerfristige Ideen unterbreitet, wie die Währungsunion künftig funktionieren sollte.

Ich möchte heute zwei Punkte dieses Berichts hervorheben, die ich besonders wichtig finde.

Erstens plädieren die fünf Präsidenten dafür, die Bankenunion zu vervollständigen. Eine vollständige Bankenunion wird die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen nachhaltig verbessern und die Widerstandsfähigkeit des europäischen Finanzsektors erhöhen.

Dazu gehört, rasch Einigung über eine Brückenfinanzierung für den Abwicklungsfonds zu erzielen. Denkbar wäre eine Kreditlinie des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Diese müsste haushaltsneutral gestaltet werden. Das heißt, Vorauszahlungen der öffentlichen Hand würde die Finanzwirtschaft im Zeitverlauf über entsprechende Abgaben erstatten.

Dies würde helfen, die enge Verzahnung zwischen Staaten und ihren Banken zu lösen. Wenn das gelingt, wird auch die Geldpolitik spürbar entlastet.

Zweitens sprechen sich die fünf Präsidenten dafür aus, langfristig in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik mehr Souveränität zu teilen. Absolute Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Konvergenzmechanismen der Währungsunion in Zukunft besser funktionieren. Abweichlern muss früher und dezidierter Einhalt geboten werden.

Gelingt es auf diesem Weg, den Euroraum so zu stabilisieren, dass er widerstandsfähiger wird, sind gemeinsame Standards und Entscheidungen in fiskalpolitischen Angelegenheiten nicht nur denkbar, sondern zu einem gewissen Grad auch notwendig. Es geht nicht darum, die komplette Einnahmen- und Ausgabenpolitik der Mitgliedstaaten zu zentralisieren. Aber eine echte Währungsunion funktioniert nur dann reibungslos, wenn gewisse Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. Dafür könnte – irgendwann – ein euroraumweites Schatzamt den Rahmen bieten.

Das sind ambitionierte Vorschläge. Sie werden sich nicht von heute auf morgen realisieren lassen, denn sie müssen von unseren Demokratien getragen werden. Aber sie zeigen, in welche Richtung die Währungsunion sich mittel- bis langfristig entwickeln sollte. Und die ersten Schritte in diese Richtung können und sollten wir bereits heute gehen.

Es liegt nun an den europäischen Staats- und Regierungschefs, über die Vorschläge nachzudenken, die längerfristigen Ideen weiter zu konkretisieren und sie im Sinne einer vertieften Wirtschafts- und Währungsunion umzusetzen.

Schlussgedanken

Die Wirtschaft im Euroraum erholt sich langsam, aber stetig. Auch dank unserer jüngsten geldpolitischen Maßnahmen. Diese Maßnahmen waren

  1. notwendig,
  2. angemessen, und
  3. sie sind wirksam.

Ich bin zuversichtlich, dass die wirtschaftliche Erholung weiter voranschreitet.

Gerade in einer Währungsunion lassen sich aber weder die einzelnen Politikfelder, noch die verschiedenen Politik- und Entscheidungsebenen isoliert voneinander denken. Das Wohl jedes einzelnen Mitgliedstaates ist nicht nur von der Situation im eigenen Land, sondern auch von der übrigen Union abhängig. Das hat die Krise allzu deutlich vor Augen geführt. Und die Politik hat reagiert. Das institutionelle Gefüge der Währungsunion ist deutlich gestärkt. Zwischenzeitlich hat der Reformeifer aber deutlich nachgelassen. Der Bericht der fünf Präsidenten sollte Anlass genug sein, wieder mehr Dynamik in die Diskussion über die weitere Integration der Währungsunion zu bringen.

Wir werden das europäische Integrationsprojekt nicht heute abschließen können. Dies haben die jüngsten Erfahrungen verdeutlicht: Der Konvergenzprozess wird unterminiert, wenn Souveränitätsansprüche einzelner Mitgliedsstaaten deren Eigenverantwortung übertünchen und wenn selbst das Einhalten von vereinbarten Regeln verweigert wird, die langfristig im eigenen Interesse sind.

Nur, wenn sich alle Mitglieder der Währungsunion auf einen gemeinsamen Weg in die Zukunft verständigen, können wir schon heute die nächsten Schritte in die richtige Richtung gehen – Schritte hin zu dynamischerem Wachstum, höherem Wohlstand und mehr Stabilität.

  1. [1]ECB June 2015 Eurosystem Staff Macroeconomic Projections for the Euro Area, https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/other/eurosystemstaffprojections201506.en.pdf

  2. [2]Strukturreformen, Inflation und Geldpolitik, Eröffnungsrede von Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, anlässlich des ECB Forum on Central Banking, Sintra, 22. Mai 2015 http://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2015/html/sp150522.de.html

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