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Wiederankurbelung des Wachstums im Euro-Währungsgebiet

Rede von Yves Mersch, Mitglied des Direktoriums der EZB,Institute of International European Affairs,Dublin, 7. Februar 2014

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

zunächst möchte ich für die Einladung danken, heute zu Ihnen zu sprechen. Ich freue mich hier in Irland zu sein, kurz nachdem dieses Land sein Anpassungsprogramm beendet und seine wirtschaftliche Autonomie wiederhergestellt hat. Wenn auch weiterhin Herausforderungen bestehen, so haben die Iren doch dem restlichen Eurogebiet beispielhaft gezeigt, wie wirtschaftlich schwierige Zeiten zu bewältigen sind – indem man sich der Herausforderung stellt, die notwendigen Maßnahmen ergreift und so schnell wie möglich wieder Tritt fasst.

Erfreulich ist, dass sich die Erholung auch im restlichen Eurogebiet zu festigen scheint. Die jüngsten Daten deuten darauf hin, dass das Wirtschaftswachstum weiter zugenommen hat und die Konjunktur nicht nur durch Nettoexporte, sondern auch durch die Binnennachfrage gestützt wird. Dennoch ist die Erholung weiterhin relativ schwach und uneinheitlich, und es muss noch einiges getan werden, um die sehr hohe Arbeitslosigkeit zu senken. Dies wirft die Frage auf, wie im gesamten Euroraum ein nachhaltiges Wachstum angekurbelt werden kann.

Meines Erachtens können Nachfrageimpulse nur einen begrenzten Beitrag leisten. Der geldpolitische Kurs wird so lange wie nötig akkommodierend bleiben, er kann aber nicht alle Probleme lösen, sondern nur Zeit gewinnen. Die Haushaltspolitik ist zwangsläufig durch die hohe Verschuldung eingeschränkt. Und während sich der private Sektor dem Schuldenabbau unterzieht, können wir nicht – und sollten wir nicht – die Rückkehr zum schuldengetriebenen aggregierten Nachfragewachstum der Vergangenheit erwarten.

Um das Wachstum zu beleben, müssen wir demnach den Blick hauptsächlich auf die Angebotskapazität der Wirtschaft, d. h. das Potenzialwachstum, richten. Und da ist die Lage nicht so erfreulich. Der Europäischen Kommission zufolge ist das Potenzialwachstum im Eurogebiet von 2,2 % (2000-2007) auf 0,9 % (2008-2012) gesunken. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um diese Situation umzukehren, und heute möchte ich die Frage erörtern, wie wir das erreichen können.

Warum ist das Potenzialwachstum zurückgegangen?

Lassen Sie mich zu Beginn kurz rekapitulieren, weshalb das Potenzialwachstum während der Krise schrumpfte und welche Herausforderungen dies für die politischen Entscheidungsträger mit sich brachte. In meinen Ausführungen verwende ich eine weit gefasste Definition des Potenzialwachstums als Wirtschaftsleistung, die durch die verfügbaren Produktionsfaktoren – Kapital, Arbeit und Technologie – aufrechterhalten werden kann, ohne Inflationsdruck zu erzeugen und/oder Boom-Bust-Zyklen Vorschub zu leisten.

Zuerst komme ich nun auf das Kapital zu sprechen. Investitionen wurden von der Krise mit am stärksten getroffen: Seit dem Höhepunkt der Krise im Jahr 2008 schrumpften die Gesamtinvestitionen um mehr als 15 %. Dies ist natürlich zu einem gewissen Grad konjunkturbedingt und spiegelt auch eine notwendige Korrektur vergangener übermäßiger Investitionen im Bausektor wider. Dennoch ist ein starker und bislang anhaltender Rückgang der Unternehmensinvestitionen zu verzeichnen, was das künftige Produktivitätswachstum belasten könnte, da solche Investitionen in der Regel den Technologiegehalt des Kapitals erhöhen. Wenn Investitionen über einen längeren Zeitraum hinweg unter der Trendrate liegen, könnte dies außerdem dazu führen, dass das Sparaufkommen die Investitionen übersteigt und dadurch der natürliche Zins sinkt.

Die Entwicklung des Arbeitskräfteangebots war auch schwach. Ein positiver Faktor war die Zunahme der Erwerbsbeteiligungsrate im Eurogebiet um rund einen Prozentpunkt im Lauf der Krise, wohingegen die Beteiligungsrate in den USA um mehr als drei Prozentpunkte sank. Dies ist jedoch dem Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit im Euroraum von 3 % auf 6 % gegenüberzustellen, der das Risiko eines Qualifikationsverlusts der Arbeitnehmer und einer Diskrepanz zwischen erworbenen und nachgefragten Qualifikationen birgt. Das ist von besonderer Bedeutung, da Arbeitslosigkeit vor allem bei Personen mit geringerer Qualifikation verstärkt auftritt: Rund 20 % der niedrig qualifizierter Personen sind arbeitslos, im Gegensatz zu nur rund 7 % der hoch qualifizierten.

Die gesamte Faktorproduktivität – die im Prinzip den langfristigen technologischen Fortschritt erfasst – ist während der Krise nur marginal zurückgegangen, was höchstwahrscheinlich Ausdruck der Unterauslastung eingesetzter Produktionsmittel ist. Das ist jedoch kein Grund, sich zurückzulehnen, da die gesamte Faktorproduktivität im Eurogebiet schon geraume Zeit vor Beginn der Krise einen Abwärtstrend verzeichnete und sich weniger schnell erholte als jene in den Vereinigten Staaten. [1]

Aus diesen Entwicklungen resultieren zwei zusammenhängende Herausforderungen für politische Entscheidungsträger. Erstens geht es darum, wie verhindert werden kann, dass der verzeichnete Wachstumsrückgang das Potenzialwachstum beeinflusst. Hier gilt es vor allem zu vermeiden, dass steigende Langzeitarbeitslosigkeit und strukturbedingt niedrige Investitionen zu Hysterese-Effekten führen.

Zweitens geht es darum, wie das Potenzialwachstum dauerhaft gesteigert werden kann. Im Einklang mit meiner weit gefassten Definition des Potenzialwachstums deuten neuere Forschungsergebnisse darauf hin, dass vor der Krise erfolgte Schätzungen aufgrund von Effekten im Zusammenhang mit dem Finanzzyklus möglicherweise zu hoch ausgefallen sind. [2] Anders gesagt war das Produktionspotenzial nach Berücksichtigung von Daten zu den nicht tragfähigen Entwicklungen von Realzinssätzen, Kreditwachstum und Immobilienpreisen, die den Zeitraum vom 2003 bis 2008 prägten, möglicherweise niedriger als gedacht. Eine Rückkehr zum Status quo ante könnte daher nicht ausreichen, um ein hohes Niveau nachhaltiger Beschäftigung wiederherzustellen.

Zwischen diesen beiden Herausforderungen besteht ein Zusammenhang: Insofern wir nämlich eine Aufwärtsverschiebung des künftigen Potenzialwachstums erreichen können, hat dies auch Auswirkungen auf die heutigen Wachstumserwartungen. Dies könnte Unternehmen und Privathaushalte dazu veranlassen, Konsum- und Investitionsentscheidungen vorzuziehen, was wiederum dazu beitragen würde, das Risiko von Hysterese-Effekte zu senken. Umgekehrt gilt, dass wir negativen Erwartungshaltungen erliegen könnten, wenn es keine Aussichten für ein höheres künftiges Wachstum gibt.

Aus diesem Grund besteht meiner Ansicht nach in Bezug auf beide Herausforderungen dringender Handlungsbedarf. Und drei Bereiche sehe ich als dabei als relevant an: die Geldpolitik, die Sanierung des Finanzsektors und vor allem Strukturreformen.

Wie können wir das Potenzialwachstum steigern?

Geldpolitik

Wir wissen, dass die Geldpolitik dazu beitragen kann, Zeit für die Umsetzung notwendiger Strukturmaßnahmen zu gewinnen. Darüber hinaus mag es seltsam anmuten, die Geldpolitik in eine Diskussion zum Potenzialwachstum einzubeziehen. Vor der Krise bestand eindeutig Konsens darüber, dass die Geldpolitik die Angebotsseite der Wirtschaft nicht beeinflussen könne: Wenn sie auch in der Lage wäre, einen Beitrag zur Stabilisierung um den Trend zu leisten, so könne sie jedoch auf den Trend an sich keinen Einfluss nehmen.

Kürzlich wurde jedoch unter Zentralbankern die Frage erörtert, ob die Geldpolitik dauerhaftere Auswirkungen haben kann. Wenn beispielsweise eine – über einen längeren Zeitraum bestehende – niedrige Nachfrage Hysterese-Effekte erzeugt, kann ein stärker akkommodierender geldpolitischer Kurs, der die Konjunktur ankurbelt, möglicherweise einen permanenten Rückgang der Produktivität unterbinden. Er kann dann also für eine gewisse Zeit verhindern, dass ein konjunkturbedingter Wachstumsrückgang zu rasch strukturbedingt wird.

Diese Diskussionen sind immer noch im Gange. Es ist klar, dass die Angebotskapazität der Wirtschaft durch ihre strukturellen Merkmale bestimmt wird, und die Geldpolitik kann hierfür nicht als Ersatz dienen. Dennoch vertreten einige die Auffassung, dass die Geldpolitik eine „defensive“ Rolle in einer wirtschaftlich schwachen Zeit spielen kann. In unserem Fall können wir durch die Erfüllung unseres Auftrags zur Gewährleistung von Preisstabilität das Potenzialwachstum zwar nicht erhöhen, aber vielleicht den Rückgang begrenzen oder verzögern.

Die Wirksamkeit der Geldpolitik im Eurogebiet wurde während der Krise leider durch die Fragmentierung der Finanzmärkte eingeschränkt – und in jenen Ländern, in denen niedrige Zinsen am meisten benötigt werden. Es gibt jetzt aber Anzeichen dafür, dass die Geldpolitik im gesamten Euroraum wieder greift, insbesondere über die Kreditvergabe der Banken.

Was die Refinanzierung anbelangt, so haben sich die Refinanzierungsbedingungen der Banken seit Mitte 2012 beträchtlich gelockert. Das Kontrahentenrisiko am Interbankenmarkt ist gesunken, wie der drastische Rückgang der Zinsdifferenz zwischen dem besicherten und dem unbesicherten Segment des Geldmarkts zeigt. Und Referenzzinssätze, insbesondere Renditen von Staatsanleihen, haben sehr viel einheitlicher auf unsere Zinssenkungen reagiert.

Was die Kreditvergabe betrifft, so schlagen unsere Zinsbeschlüsse immer noch uneinheitlich auf die Kreditzinsen der Banken in den Ländern des Euroraums durch, die Streuung hat sich jedoch beträchtlich verringert. Auch unsere neueste Umfrage zum Kreditgeschäft hat die Stabilisierung der Kreditvergabebedingungen – mit Verbesserungen vor allem in angeschlagenen Ländern – bestätigt.

Kurzum haben wir Grund darauf zu vertrauen, dass unser akkommodierender geldpolitischer Kurs auf die Realwirtschaft übertragen wird und dazu beitragen kann, Beeinträchtigungen des Potenzialwachstums, die durch eine länger andauernde wirtschaftliche Schwäche verursacht werden, zu vermeiden. Es ist jedoch auch offenkundig, dass niedrige Zinssätze nicht zu einer strukturbedingten Erhöhung des Wachstums führen können. Für die Steigerung der Produktivität ist es entscheidend, dass bei der Kreditallokation die Mittel dahin fließen, wo sie am produktivsten sind.

Gestatten Sie, dass ich daher auf die Sanierung des Finanzsektors zu sprechen komme.

Sanierung des Finanzsektors

Es gibt zahlreiche empirische Belege dafür, dass das Wechselspiel der Unternehmen – weniger produktive Firmen verlassen den Markt und neue, innovative Unternehmen treten in Erscheinung, oder bestehende Unternehmen schichten ihre Ressourcen zugunsten produktiverer Sektoren um – eine starke Triebkraft für das gesamte Produktivitätswachstum ist. [3] Aufgabe des Finanzsektors ist es zu gewährleisten, dass die Kreditallokation diesen Prozess unterstützt.

Zumindest in Teilen des Eurogebiets scheinen jedoch Banken mit schwachen Bilanzen diesen Prozess verzögert zu haben. Einer jüngst erschienenen Studie zufolge haben größere Banken eine Umverteilung von Krediten zu Lasten stärker risikobehafteter Unternehmen vorgenommen, sodass sie neuen Marktteilnehmern den Zugang verwehrten, während kleinere Banken zur Fortschreibung von Krediten tendierten und somit Marktaustritte verhinderten. [4]

Schwache Banken scheinen auch die sektorale Reallokation hinausgezögert zu haben. Trotz der jüngsten Verbesserungen der Kosten- und Preiswettbewerbsfähigkeit in Griechenland hat sich die sektorale Kreditallokation nicht wesentlich zu Gunsten exportorientierter Unternehmen entwickelt [5], um Ihnen nur ein Beispiel zu nennen. Dies lässt darauf schließen, dass Banken in bestimmten Ländern des Eurogebiets die Hinwendung zu produktiveren Sektoren nicht ausreichend erleichtern.

Die Sanierung des Finanzsektors muss daher bei jeder Maßnahme zur Steigerung des Potenzialwachstums des Euroraums an zentraler Stelle stehen. Um zu gewährleisten, dass die Kreditvergabe produktiven Tätigkeiten zugutekommt, gibt es meiner Ansicht nach zwei Handlungsprioritäten.

Die erste Priorität besteht in der Stärkung der Bankbilanzen, sodass Verluste ordnungsgemäß verbucht werden und eine angemessene Rekapitalisierung erfolgt. Deshalb ist unsere laufende umfassende Bewertung der Banken so wichtig. Sie stellt nicht nur das Vertrauen in den Sektor wieder her, sondern schafft auch die Voraussetzungen für eine schnellere Erholung des Potenzialwachstums.

Die Bewertung hat auch noch einen weiteren Vorteil: Sie stellt sicher, dass die Niedrigzinsen der EZB Banken und Unternehmen nicht dazu verleiten, Restrukturierungen zu verzögern. Sie ermöglicht uns somit, den geldpolitischen Kurs beizubehalten, der für das Eurogebiet angemessen ist, und gleichzeitig mögliche negative Auswirkungen im Zusammenhang mit einer Fehlallokation von Ressourcen abzumildern.

Die zweite Priorität besteht in der Förderung alternativer Refinanzierungsquellen im Eurogebiet und in der Entwicklung der Refinanzierung über den Kapitalmarkt, sodass das langfristige Produktivitätswachstum nicht so stark von der Solidität der Banken abhängig ist. Bis zu einem gewissen Grad ist dies Teil einer organischen Entwicklung: Unternehmen in großen Ländern ersetzen Bankkredite bereits durch Ausgabe von Wertpapieren und Aktien. Kleine und mittlere Unternehmen haben diese Möglichkeit jedoch weitgehend nicht, was sie gegenüber Belastungen des Bankensektors sehr anfällig macht.

Deshalb habe ich mich dafür ausgesprochen, die Wiederbelebung des in den letzten Jahren praktisch ausgetrockneten Verbriefungsmarkts in Europa zu unterstützen. Meiner Ansicht nach ist dieser Verbriefungsmarkt ein wichtiges Instrument, das Banken dabei unterstützt, mit dem Kreditrisiko bei der Vergabe von Krediten an KMUs umzugehen. Damit sich dieser Markt erholen kann, ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass die Vorschriften für Asset-Backed Securities (ABS) auf realen Daten und nicht auf den Altdaten des Subprime-Desasters in den USA gründen. Hier in Europa haben wir eine ganz andere Erfahrung mit Asset-Backed Securities gemacht: Von Mitte 2007 bis zum ersten Quartal 2013 betrug die Ausfallrate bei ABS nur 1,4 % in der EU, während sie sich in den USA auf 17,4 % belief. [6]

Strukturreformen

Wenn die Sanierung des Finanzsektors dazu beitragen kann, dass Kredite den produktivsten Unternehmen zugutekommen, so müssen wir auch die Frage stellen, woher diese Unternehmen kommen. Der Anreiz für Unternehmen, Skaleneffekte zu nutzen, zu investieren und innovativ zu sein – d. h. produktiv zu sein – hängt entscheidend vom Geschäftsumfeld ab. Wir müssen daher sicherstellen, dass wir über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verfügen, die dies fördern.

Somit komme ich zum zentralen Thema der Strukturreformen. Ohne sie gibt es einfach keine Möglichkeit, ein höheres Potenzialwachstum im Euroraum zu erzielen. Strukturreformen sind für die Steigerung der Trendkomponente der Inputfaktoren der Produktion (Investitionen und Arbeitskräfte) und die Effizienz ihrer Nutzung (gesamte Faktorproduktivität) von grundlegender Bedeutung.

Lassen Sie mich die Gründe hierfür darlegen.

Punkt eins: Investitionen im Eurogebiet nehmen möglicherweise zu, da die Unsicherheit, die durch die Krise verursacht wurde, schwindet. Um Trendinvestitionen zu fördern, müssen sich jedoch für die Unternehmen neue Gelegenheiten bieten, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu wachsen. Für die Volkswirtschaften im Euroraum kann dies hauptsächlich durch die Beseitigung regulatorischer Hemmnisse – wie beispielsweise Planungsgesetze, welche die Expansion des Einzelhandels beschränken, oder Transportvorschriften, die grenzüberschreitende Projekte behindern – erreicht werden.

Laut einem kürzlich veröffentlichten Bericht eines Consultingunternehmens befinden sich 45 % der Anlageinvestitionen in Europa in Sektoren, in denen Regierungen einen bedeutenden regulatorischen Einfluss haben. Dies impliziert, dass Strukturreformen in diesen Bereichen Investitionen stark ankurbeln würden. [7] Und da viele Investitionsprojekte jahrzehntelang von Renditen profitieren, könnten sie durch regulatorische Änderungen sogar in einer relativ schwachen Wirtschaft rentabel werden.

Punkt zwei: Angesichts der schwachen demographischen Entwicklung in Europa kann das Trend-Arbeitskräfteangebot nur durch weitere Reformmaßnahmen verstärkt werden. Wir wissen, dass diese funktionieren können. Die Zunahme der Erwerbsbeteiligung während der Krise ist weitgehend auf frühere Reformen zur Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie auf Reformen im Zusammenhang mit Vorruhestandsregelungen und Renten, welche die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer erhöhten, zurückzuführen.

Die Herausforderung besteht jetzt darin, auch zu Gunsten von Gruppen, die während der Krise gelitten haben, insbesondere jüngere und niedrig qualifizierte Menschen, aktiv zu werden. Zu den zentralen Maßnahmen in diesem Bereich zählen unter anderem die Verringerung der Spaltung des Arbeitsmarkts und der Wechsel von passiven Arbeitsmarktmaßnahmen – wie zum Beispiel Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit, die von Anreizen zur Stellensuche entkoppelt sind – hin zu aktiven Maßnahmen, wie der Unterstützung bei der Arbeitssuche und der Schulung.

Die Verbesserung der Bedingungen für die grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitskräften wird auch ausschlaggebend sein – vor allem in jenen Ländern, die schneller altern. Projektionen der OECD zufolge wird beispielsweise das Potenzialwachstum in Deutschland aufgrund eines Mangels an qualifizierten Arbeitskräften nach 2020 rasch unter 1 % sinken. [8] Darüber hinaus könnte eine höhere Zuwanderung zu einer stärkeren Dynamik der privaten Nachfrage, einschließlich einer höheren Nachfrage nach Investitionen, führen.

Punkt drei: Es ist unwahrscheinlich, dass sich der Abwärtstrend der gesamten Faktorproduktivität umkehrt, wenn keine Strukturreformen zur Verbesserung der Ressourcenallokation durchgeführt werden. Durch Förderung des Wettbewerbs und Verringerung der wirtschaftlichen Rente gewährleisten diese Reformen, dass Ressourcen – und Gegenleistungen – in Sektoren mit hoher Produktivität fließen, was wiederum Innovationen und den technologischen Fortschritt stützt. Einer kürzlich veröffentlichten Studie zufolge könnte eine Zunahme des Wettbewerbs im Sektor der handelbaren und der nicht handelbaren Güter in Italien die Produktion in fünf Jahren um 4,0 % und langfristig um 7,7 % erhöhen. [9]

Darüber hinaus bestand ein weiterer Grund für das niedrige Wachstum der gesamten Faktorproduktivität vor der Krise darin, dass strukturelle Hindernisse die Annahme und Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologie, insbesondere im Dienstleistungssektor, verlangsamten. [10] Reformen zur Vertiefung der Marktintegration zwischen Ländern des Euroraums – wie beispielsweise die vollständige Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie – könnten daher der Produktivität durch diesen Kanal Auftrieb verleihen.

Es mag der Eindruck entstehen, dass dies theoretische Argumente sind. Irland ist allerdings ein sehr konkretes praktisches Beispiel. Dank vorhergehender Strukturreformen passten sich die relativen Preise fast unmittelbar nach der Rezession von 2008-2009 an und ermöglichten es der Wirtschaft, schnell damit zu beginnen, ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen. Die Arbeitslosenrate ging ab 2012 zurück und sank von 14 % im Dezember 2012 auf 12 % im Dezember des Folgejahrs. In anderen Ländern, die ebenfalls ein Anpassungsprogramm durchführten, aber eine weniger flexible Volkswirtschaft aufwiesen, setzte die Erholung sehr viel später ein.

Wenn wir auch bei der Zuschreibung von Ursächlichkeiten vorsichtig sein müssen, so scheint der bedeutende Investitionsrückgang, der sich in den letzten fünf Jahren in Irland manifestierte, jetzt zu einem Ende gekommen zu sein. Die Kapitalbildung ging 2013 in den ersten drei Quartalen im Jahresvergleich zurück; wenn man jedoch die Auswirkungen eines Rückgangs von Flugzeugkäufen ausklammert, ist eine stärkere zugrundeliegende Erholung der Investitionen zu erkennen.

Dies alles deutet darauf hin, dass Irland die richtigen Maßnahmen umsetzt, um das Wachstumspotenzial des Landes künftig zu steigern – und dies auf eine nachhaltige Weise, die nicht mit dem Finanzzyklus verbunden ist. Das aktuelle Niveau der Renditeaufschläge irischer Staatsanleihen lässt darauf schließen, dass diese Ansicht auch an den Finanzmärkten weit verbreitet ist.

Ich vertraue allerdings darauf, dass diese guten Nachrichten nicht Anlass zu Selbstgefälligkeit werden, da Irland weiterhin beträchtlichen Herausforderungen in mehreren Bereichen gegenübersteht. Dazu zählen die weitere Sanierung der Bilanzen des öffentlichen und privaten Sektors, die Verringerung der immer noch hohen Arbeitslosenraten bei Langzeitarbeitslosen und der Jugend und schließlich die Wiederherstellung der Funktionalität des Bankensektors, sodass Letzterer die Binnenwirtschaft nach Bewältigung der Krise unterstützt und nicht einschränkt.

Schlussfolgerungen

Kommen wir zu den Schlussfolgerungen.

Die Herausforderungen, denen das Eurogebiet heute bei der Erhöhung seines Potenzialwachstums gegenübersteht, sind nicht neu. Seit den 1990er-Jahren wissen wir, dass die Angebotsbedingungen im Euroraum einer Reform unterzogen werden müssen. Das war das Ziel der gescheiterten Lissabon-Agenda. Und es war auch der Kontext eines berühmten Zitats über den offensichtlichen Widerspruch zwischen Reform und Wiederwahl.

Neu ist nun jedoch die gebotene Dringlichkeit der Maßnahmen. Mit Blick auf das Wachstum besteht die Gefahr eines strukturellen Rückschlags. Wir können uns daher Verzögerungen nicht mehr länger leisten und sollten auch die Geldpolitik nicht überfrachten. Strukturreformen sind unerlässlich.

Der offensichtliche Widerspruch zwischen Reform und Wiederwahl mag aus diesem Grund nun obsolet sein, schlicht und einfach weil die Menschen Wachstum wollen, das allerdings ohne Reformen nicht zustandekommt. Im Euroraum gibt es kein einziges Land, das Reformen verzögert und wirtschaftliche Ergebnisse erreicht hat, mit denen die Bürgerinnen und Bürger zufrieden sind.

Wenn ich heute an das Eurogebiet denke, kommt mir Winston Churchills Ausspruch in den Sinn, dass man immer das Richtige tut, aber erst, nachdem man alle Alternativen ausgeschöpft hat. Wir haben zwei Jahrzehnte damit verbracht, alle Alternativen in Europa auszuschöpfen – und deshalb glaube ich nun, dass der einzige verbliebene Weg der richtige ist.

  1. [1]„Produktionspotenzial, gesamtwirtschaftliche Unterauslastung und der Zusammenhang mit der nominalen Entwicklung seit Beginn der Krise“, EZB-Monatsbericht, November 2013.

  2. [2]Claudio Borio, Piti Disyatat und Mikael Juselius, „Rethinking potential output: Embedding information about the financial cycle“, BIS Working Papers, Februar 2013.

  3. [3]Siehe beispielsweise Foster, Lucia, John Haltiwanger und Chad Syverson (2008), „Reallocation, Firm Turnover, and Efficiency: Selection on Productivity or Profitability?“  American Economic Review, 98(1): 394-425.

  4. [4]Albertazzi, U. und Marchetti, D. J. (2010), „Credit crunch, flight to quality and evergreening: an analysis of bank-firm relationships after Lehman“, Working paper, Banca d’Italia.

  5. [5] OECD Economic Surveys: Greece 2013 (November 2013).

  6. [6]Standard & Poor’s, „Transition Study: Less Than 1.5% Of European Structured Finance Has Defaulted Since Mid-2007“, 11. Juni 2013. Siehe auch Moody’s Investors Service, „Structured Finance Rating Transitions: 1983-2013“, 7. Juni 2013, sowie Fitch Ratings, „The Credit Crisis Four Years On … Structured Finance Research Compendium“, Juni 2012, und „EMEA Structured Finance Losses“, August 2011.

  7. [7] Investing in Growth: Europe’s Next Challenge, McKinsey Global Institute, Dezember 2012.

  8. [8] OECD Economic Surveys: Germany 2012 (Februar 2012).

  9. [9]Lusine Lusinyan und Dirk Muir, „Assessing the Macroeconomic Impact of Structural Reforms: The Case of Italy“, IMF Working Paper, Januar 2013.

  10. [10]Ramon Gomez-Salvador, Alberto Musso, Marc Stocker und Jarkko Turunen, „Labour Productivity Developments in the Euro Area“, ECB Occasional Paper, Nr. 53, Oktober 2006.

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